Atomkraft: Abstieg einer als "sauber" gefeierten Energie
Als in den 60er-Jahren die ersten Atomreaktor-Kuppeln in der Landschaft auftauchten, regte sich niemand auf. Doch schon gut zehn Jahre später wurde die zivile Kernenergie vom politischen Lieblingskind zum Buhmann.
Hiroshima, Nagasaki - damit wurde die Kernenergie für Millionen von Menschen zum ersten Mal zum Begriff. Bis Anfang der 50er-Jahre blieb die Spaltenergie aus Atomkernen vor allem militärisch erforscht und genutzt. Erst allmählich begann man, zivile Einsatzmöglichkeiten der neuen Technik in Betracht zu ziehen. Kurz vor Weihnachten 1951 lieferte ein Forschungsreaktor im US-Bundesstaat Idaho erstmals elektrischen Strom und brachte vier Glühlampen zum Glimmen. 1954 nahmen die Sowjets in Obninsk bei Moskau das erste Kernkraftwerk der Welt in Betrieb.
1957 bekommt die Bundesrepublik ihren ersten Forschungsreaktor
In Deutschland entstand 1957 mit dem Atom-Ei in Garching ein Forschungsreaktor. Drei Jahre später lief das erste deutsche Kernkraftwerk an: Das Versuchsatomkraftwerk Kahl am Main speiste ab 1961 15 Megawatt ins Stromnetz ein. Nach und nach wurden Kernkraftwerke mit immer höherer Leistung gebaut, beispielsweise Gundremmingen (1966) mit 250 Megawatt. In der Öffentlichkeit fanden keine großen Diskussionen über die Atomtechnik statt - sie war einfach da, ihre friedliche Nutzung als sicherer und umweltfreundlicher Beitrag zur Energiegewinnung gerade auch in bürgerlichen und akademischen Kreisen akzeptiert.
Viertes Atomprogramm von 1973 sieht großzügigen Ausbau der Kernenergie vor
1973 waren in der Bundesrepublik Deutschland fünf Atomkraftwerke zur Stromproduktion im Betrieb, eines davon - Stade - im Norden. Für weitere elf - darunter Brunsbüttel und Krümmel - liefen Bauanträge. Die Bundesregierung ging davon aus, dass der Strombedarf in naher Zukunft stark anwachsen werde, und arbeitete an einem Plan zur Förderung der Atomtechik, dem "Vierten Atomprogramm". Mit dem Schock der Ölkrise im Herbst 1973 wurde die Endlichkeit der Energieressourcen zu einem breit diskutierten Thema, und die Pläne zur Kernkraftnutzung - inklusive Wiederaufbereitungsanlangen, da auch die Uranvorräte begrenzt waren - gewannen noch zusätzlichen Auftrieb. Im Dezember 1973 passierte das ehrgeizige Vierte Atomprogramm den Bundestag: Es sah den Ausbau der Atomenergie auf eine Gesamtkapazität von 45.000 bis 50.000 Megawatt bis Mitte der 80er-Jahre vor.
Zu dieser Zeit ahnte noch niemand, dass sich in nur wenigen Jahren eine breite und schlagkräftige Anti-Atomkraft-Bewegung entwickeln würde. Gerade einmal die Hälfte der damals geplanten Gesamtleistung sollten Atomkraftwerke in Deutschland liefern, bevor ein Vierteljahrhundert später auch schon wieder der Atomausstieg eingeleitet würde.
Wyhl 1975: "Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv"
Entschiedene Ablehnung der Atomtechnik erfuhren die Kraftwerkbauer erstmals 1975 in Wyhl am Kaiserstuhl, wo Bürgerinitiativen 90.000 Unterschriften sammelten und über acht Monate weitgehend friedlich den Bauplatz besetzten. Nach jahrelangen gerichtlichen Baustopps wurde der Plan für das AKW Wyhl schließlich aufgegeben. Baden-Württembergs Ministerpräsident Filbinger sagte damals: "Wenn dieses Beispiel Schule macht, ist dieses Land nicht mehr regierbar."
Brokdorf 1976: Die Anti-AKW-Bewegung nimmt Fahrt auf
Das Protestbeispiel machte Schule - schon gut ein Jahr später im schleswig-holsteinischen Brokdorf. Diesmal allerdings war die Atomindustrie besser vorbereitet und ließ sofort nach Erhalt der Teilerrichtungsgenehmigung das Gelände wie eine Festung sichern, um Besetzungen zu vermeiden. Friedlich und konsensgetragen waren die Proteste hier nicht mehr. Mehrfach eskalierten Demonstrationen in Brokdorf zu bürgerkriegsähnlichen Schlachten, bei denen sich massives Polizeiaufgebot - martialisch ausgerüstet mit Hubschraubern, Wasserwerfern und Tränengasgranaten - und Zigtausende Kundgebungsteilnehmer, darunter militante Gruppen mit verletzungsträchtigen Waffen und Wurfgeschossen, gegenüberstanden. Brokdorf wurde zu einem Symbol der Anti-AKW-Bewegung.
Das Meinungsbild in der Bevölkerung wandelt sich
Die Zustimmung zu AKWs war von Mai 1975 bis Dezember 1976 rapide gesunken. Auf die Frage, wie sie entscheiden würden, falls sie über einen Atomkraftwerkbau in ihrer Nähe abstimmen sollten, sprachen sich im Frühling 1975 nur 28 Prozent der Befragten dagegen aus, ein Drittel war unentschieden. Anderthalb Jahre später hatten die Atomkraftgegner viele der Unentschlossenen auf ihre Seite gezogen: Nur noch 18 Prozent waren indifferent, fast die Hälfte stimmte dagegen.
Der schwere Reaktorunfall von Harrisburg (28. März 1979) und insbesondere die Katastrophe von Tschernobyl (26. April 1986), nach der eine radioaktive Wolke über Europa zog, fachten die Angst vor den Gefahren der Kernenergie in der Bevölkerung stark an. In Wackersdorf forderten die Auseinandersetzungen um den Bau der Wiederaufbereitungsanlage im Frühling 1986 bei Großdemontrationen mehrere Tote. Das Thema war inzwischen emotional enorm aufgeladen, und die Geschehnisse machten den weiteren Ausbau der Kernenergie ab Mitte der 80er-Jahre politisch de facto undenkbar.
Rot-Grün zieht 1998 die Notbremse: Einstieg zum Ausstieg
Nach ihrem Wahlerfolg ging die rot-grüne Koalition auf Bundesebene 1998 in Verhandlungen mit der Atomindustrie mit dem Ziel, den allmählichen Ausstieg aus der Kernkraftnutzung politisch herbeizuführen ("Atom-Konsens"). 2000 wurde auf Druck der Bundesregierung beschlossen, die kommerzielle Nutzung der Kernenergie etwa zum Jahr 2020 einzustellen. Im Zuge dieses Kompromisses wurden bereits zwei Kernkraftwerke vom Netz genommen, darunter Stade. Der Ausstiegsbeschluss ist jedoch politisch und gesellschaftlich weiterhin umstritten.
Die Anti-Atomkraft-Bewegung verlor durch den Atom-Konsens zunächst ein wenig an Kraft. Im Widerstand gegen die Rückführung von Brennelementen aus der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague ins Zwischenlager Gorleben lebte sie aber erneut auf. Die massiven Proteste gegen die Atommülltransporte mit Castor-Behältern machten bundesweit Schlagzeilen. Seit dem 1. Juli 2005 sind alle weiteren Transporte in Wiederaufarbeitungsanlagen vom Bundesumweltministerium untersagt. Rücktransporte von bei der Wiederaufarbeitung angefallenen radioaktiven Abfälle aus den Wiederaufarbeitungsanlagen finden allerdings noch statt.
Bundesregierung beschließt 2011 endgültigen Atom-Ausstieg
Der Atomunfall im japanischen Fukushima am 11. März führte zu einer grundlegenden Wende der deutschen Atompolitik. Die damalige Bundesregierung entschied sich für einen mehrstufigen Ausstieg bis 2022. Zunächst wurde die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke ausgesetzt. Daran schloss sich ein dreimonatiges Moratorium an - in diesem Zeitraum wurden alle 17 deutschen AKW's einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Nach einem Kabinettsbeschluss vom 6. Juni 2011 gingen in der Folge die sieben ältesten Meiler sowie das Kernkraftwerk Krümmel für drei Monate vom Netz. Schließlich wurden sie dauerhaft stillgelegt. Inzwischen produzieren nur noch drei deutsche Atomkraftwerke Strom, bis auch sie Ende 2022 abgeschaltet werden. Dazu gehört unter anderem das AKW Emsland in Lingen.
Bevölkerung in Deutschland: "Atomkraft - Nein, Danke!"
Während Frankreich in den nächsten Jahren weitere 14 Atomkraftwerke bauen will, spricht sich die Mehrzahl der Deutschen noch immer gegen Atomkraft aus. Wie die Bevölkerung zum Atomausstieg steht, überprüft regelmäßig das Allensbach-Institut. Das Ergebnis von 2021: 56 Prozent finden den Atomausstieg richtig, 25 Prozent falsch. Aber es gibt auch einen gegenläufigen Trend: 2012 lag die Zustimmung noch bei 73 Prozent - doch seitdem ist sie stetig um ein paar Prozentpunkte zurückgegangen.
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