Flucht aus Ostpreußen: "Es war alles noch viel grausamer"

Stand: 13.05.2025 21:58 Uhr

Als 15-Jähriger flieht Leo Thiel mit seiner Mutter und drei der fünf Brüder vor der Roten Armee aus Ostpreußen nach Westen. Nach der Ankunft in Neukloster bei Wismar stirbt die Mutter. Die Wunden heilen nie, Tränen fließen aber erst heute.

Zwei Brüder sind in Kriegsgefangenschaft als die Mutter mit ihren vier Jüngsten aus Ostpreußen flieht. Leo Thiel ist einer von ihnen. "Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater ihr gesagt hat, sie solle sich nicht umdrehen, sie werde den Hof nie wieder sehen", erzählt der heute 95-Jährige. Viele Monate dauert ihre Flucht Richtung Westen, fast ein Jahr sind sie unterwegs als sie kurz vor Weihnachten 1945 in Neukloster bei Wismar ankommen. Leo Thiels Mutter ist seelisch am Ende - "durch die Vergewaltigungen" - und körperlich geschwächt - "durch die Hungersnot", erinnert er sich. "Ihr starker Wille, uns Kinder am Leben zu halten, gab ihr die Kraft, das durchzuhalten."

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Brot, Wurst, Butter nur auf Tischen anderer

In der damaligen Landwirtschaftsschule kommen die Flüchtlinge unter. Dort haben wir "hausiert", wie Leo Thiel es nennt, "nicht gewohnt." Auf dem Fußboden ohne Decken mussten sie liegen, hatten wenig Kleidung und kaum etwas zu essen. Die Einheimischen musterten sie, nannten sie "Drecks-Flüchtlinge". Brot, Wurst und Butter sahen sie nur, wenn sie abends durch die Fenster auf die Tische der Familien guckten. "Wir hatten nichts." Leo Thiel erinnert sich an das Gefühl von Wut und daran, dass sie sich betrogen fühlten. "Einheimische bekamen Fleisch auf ihre Essensmarken, uns sagte man immer, wir haben schon alles weg."

Nie heilende Wunden

Leo Thiels Mutter erkrankt wie viele andere an Typhus, sie stirbt nur kurze Zeit später einsam auf einer Krankenstation. Am Grab der Mutter kann keines der Kinder eine Träne weinen. "Wir waren emotional so belastet, dass wir keine Gefühle zulassen konnten", erinnert er sich heute mit gebrochener Stimme und feuchten Augen. Die Stunden des Grauens, Tod, Hunger und der Verlust der geliebten Mutter haben sie geprägt und Wunden hinterlassen, die nie heilen. Wie er es seiner Mutter versprochen hat, hat Leo Thiel sein Schicksal aufgeschrieben. Doch Worte, die das Erlebte beschreiben, gibt es nicht. "Es war alles noch viel grausamer", fasst er die Flucht und das Ankommen in der neuen Heimat zusammen.

Dankbar für eine fröhliche Zukunft

Dennoch ist Leo Thiel heute dankbar - für den Pfarrer, der ihn und seine Geschwister nach dem Tod der Mutter ins Kinderheim nach Wismar bringt, für die Bauernfamilie, die ihn danach aufnimmt und für die sangesfreudige Familie seiner Frau, die ihm in der Nähe von Wismar eine fröhliche Zukunft schenkt.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Nordmagazin | 13.05.2025 | 19:30 Uhr

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