Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizei vor dem Landgericht Berlin am Tegeler Weg am 4. November 1968. © picture-alliance/ dpa Foto: Chris Hoffmann

1968: Ein Jahr voller Rebellion und Gewalt

Stand: 28.11.2023 11:00 Uhr

1968 erreicht die Studentenbewegung ihren Höhepunkt. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen werden härter. Nach Benno Ohnesorgs Tod und dem Attentat auf Rudi Dutschke wird diskutiert, ob Gewalt ein legitimes Mittel für Veränderungen ist.

von Ulrike Bosse, NDR Info

"An Gewalt in diesem Umfang hat meines Erachtens niemand gedacht. Ich glaube, das kam für alle überraschend", sagt Matthias Pusch rückblickend auf das Jahr 1968. Er war damals junger Bereitschaftspolizist in Hamburg und hatte die Ordnung zu verteidigen, gegen die die Studentenbewegung kämpfte.

Tod von Benno Ohnesorg: "Jetzt gibt es richtig Ärger"

Matthias Pusch © NDR Foto: Katharina Kaufmann
Als Bereitschaftspolizist in Hamburg wurde Matthias Pusch 1968 oft bei Demonstrationen eingesetzt.

Auch wenn die Studierenden bei Demonstrationen und anderen Aktionen provozierten - die Polizei war zunächst nicht ihr Feindbild. Das ändert sich, als der Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 vom Polizisten Karl Heinz Kurras erschossen wird - und dieser vor Gericht freigesprochen wird. Rudi Dutschke prägt den Begriff "Stadtguerilla" und billigt Gewalt gegen Sachen, nicht aber gegen Menschen. Doch am 11. April 1968 wird ein Anschlag auf den Studentenführer verübt, und dieser schwer verletzt - in den Augen von Matthias Pusch ein Kipppunkt: "Da war mir klar, jetzt gibt es richtig Ärger."

Demonstranten im Kampf mit der Polizei vor dem Hamburger Polizeipräsidium am 16. April 1968. © picture-alliance / dpa
AUDIO: Die 60er: "68" (11/14) (37 Min)

Attentat auf Dutschke führt zu Protesten gegen Springer

Polizisten gehen in Berlin mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. © picture-alliance / dpa
Demonstration in Berlin im April 1968: Auf beiden Seiten ist die Stimmung ist aufgeheizt.

Dass der Neonazi Josef Bachmann, der drei Schüsse auf Dutschke abgegeben hat, ein Einzeltäter ist, mögen die Studenten damals nicht glauben. Sie versammeln sich vor der Firmenzentrale des Springer-Verlags in Berlin, dessen Berichterstattung sie mitverantwortlich machen für das Attentat. An den nächsten Tagen gibt es auch anderswo Demonstrationen gegen Springer.

"Unwürdig für einen demokratischen Staat"

Hannover ist eine der Städte, wo die Studierenden versuchen, die Auslieferung der Springer-Zeitungen zu verhindern. Einige Stunden kann dort friedlich demonstriert werden. Dann erklärt die Polizei die "Veranstaltung" für beendet, rückt mit Wasserwerfen und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor und löst die Proteste gewaltsam auf. Ein Mitglied der Jungen Union, das den Einsatz beobachtet, kommentiert ihn gegenüber einem Radioreporter: "Ich bin wirklich ein etablierter Mensch, aber so etwas ist mir völlig unbegreiflich: So unwürdig für einen demokratischen Staat, wie ich mir's nicht anders denken kann."

"Der Polizei flogen Steine um die Ohren"

Demonstranten im Kampf mit der Polizei vor dem Hamburger Polizeipräsidium am 16. April 1968. © picture-alliance / dpa
Nachdem es Demonstranten nicht gelungen ist, das Springer-Verlagsghaus zu stürmen, nehmen sie sich im April 1968 das Hamburger Polizeipräsidium zum Ziel.

"Springer hat ja immer stark polemisiert", erinnert sich Matthias Pusch und meint, dass die Radikalisierung eher von denjenigen ausgegangen sei, "die am Schreibtisch gearbeitet haben", als von jenen, die auf die Straße gingen. Aber auch in deren Reihen finden sich Radikale. In Hamburg erlebt Pusch eine Demonstration am Polizeipräsidium, die er als den Auftakt für viele gewaltsame Auseinandersetzungen in Erinnerung hat: "Bei diesen Einsätzen flogen den Polizeikräften die Schüttersteine um die Ohren." Und anders als heute hatten die Beamten keine Schutzausrüstung: "Die waren da ganz normal mit Jacken und Hosen. Und wenn das Wetter schlecht war, mit Mänteln und mit einer weißen Mütze", beschreibt er die Ausstattung.

Wasserwerfer löschen brennende Polizisten

Matthias Pusch in den 60er-Jahren © privat
Bei seinen Einsätzen bekam Matthias Pusch auch Hass auf die Polizei zu spüren.

Schon am 2. April 1968, also vor dem Attentat auf Rudi Dutschke, hatte eine Gruppe aus dem Umfeld der Berliner Studentenbewegung ein Kaufhaus in Frankfurt in Brand gesetzt. Eine Gewalttat, die Historiker als Ausgangspunkt für den Terrorismus der späteren "Rote Armee Fraktion" (RAF) betrachten. Für Matthias Pusch und seine Kollegen wird die Gewalt bei Demonstrationen ein zunehmendes Problem - etwa der Einsatz von Molotow-Cocktails. So fangen sie an, Regenmäntel zu tragen anstelle der bis dahin üblichen Wollmäntel, "weil da Benzin und sowas besser runterlaufen konnte." Da sei es ein Glück gewesen, wenn Wasserwerfer in der Nähe waren: "Ich habe auch erlebt, dass sie brennende Kollegen gelöscht haben."

Die Polizisten werden als "Bullen" bezeichnet, die scheinbar wutschnaubend ohne Sinn und Verstand losprügeln. Pusch empfindet das als beleidigende Karikatur. Er und seine Kollegen betrachten die Demonstranten als Aggressoren. "Es war keine Frage von Gewalt und Gegengewalt, sondern für mich war klar, der Staat hat das Gewaltmonopol."

Die Polizei als Puffer zwischen Staat und Protest

Da einige seiner früheren Mitschüler studieren und sich an den Protest-Demonstrationen beteiligen, finden sich Pusch und frühere Freunde plötzlich auf unterschiedlichen Seiten wieder. "Die haben gesagt: 'Was machst Du hier, was machst Du für einen Scheiß' - und haben mich beschimpft." Damit muss er klarkommen. Aber er habe es selten so verstanden, dass sich die Aggressionen direkt gegen die Polizei richteten, sondern dass die Polizei die undankbare Aufgabe hatte, gleichsam als Puffer zwischen Staat und Demonstranten zu stehen, sagt er rückblickend.

Attentate auf King und Kennedy befeuern Spirale der Gewalt

Ein Kollege kümmert sich um einen am Boden liegenden Polizisten, der durch den Steinwurf eines Demonstranten am 4. November 1968 bei der sogenannten Schlacht am Tegeler Weg in Berlin von seinem Pferd abgeworfen wurde. © picture-alliance/ dpa Foto: Chris Hoffmann
Bei der sogenannten Schlacht am Tegeler Weg in Berlin im November 1968 kommt es auf Seiten der Polizei zu deutlich mehr Verletzten als bei den Demonstranten.

Die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt setzt sich fort - national wie international. Am 4. April 1968 wird Martin Luther King erschossen. Im Mai brennen in Paris die Barrikaden. Im Juni wird US-Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy ermordet. In Berlin kommt es am 4. November 1968 zur "Schlacht am Tegeler Weg". Rund 1.000 Leute hatten sich mit Helmen und Stöcken ausgestattet zu einer Demonstration in Berlin-Charlottenburg aufgemacht und bewerfen die Polizei dort mit Pflastersteinen. Als die Auseinandersetzungen nach rund zwei Stunden mit Hilfe von Wasserwerfern der Polizei beendet sind, gibt es 22 verletzte Demonstranten - und 120 verletzte Polizisten. "Ich habe damals schon darunter gelitten, dass es Leute gab, die Freude an der Eskalation hatten. Und die gab es auf beiden Seiten", sagt Pusch.

Nach den Eskalationen zerfällt die Studentenbewegung

Angesichts dieser Entwicklung ziehen sich immer mehr Studierende von der Protestbewegung zurück, sie zerfällt. Es bilden sich K-Gruppen sowjetischer und chinesischer Prägung. Es entsteht das "alternative Milieu", das andere Lebensformen im Alltag weiterlebt und weiterentwickelt. Es gibt die kleine Gruppe derer, die zu Terroristen werden. Und es gibt diejenigen, die sich zu den etablierten Parteien hin orientieren - in der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt werden ab 1969 viele Anliegen der Studentenbewegung aufgegriffen.

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