Der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt am 7. März 1978 in Reinbek bei Hamburg. © dpa - Bildarchiv Foto: Cornelia Gus

Die Erfindung des Taschenbuchs: Fallada für die Hosentasche

Stand: 17.06.2020 17:27 Uhr

Nach dem Krieg liegt die Buchbranche 1945 brach. Mit auf Zeitungspapier gedruckten Romanen kurbelt der Rowohlt Verlag in Hamburg das Geschäft an. Am 17. Juni 1950 folgt die Revolution: das "rororo"-Taschenbuch.

von Yasmin Sibus

"Sehen Sie mal, wie stabil die sind", sagt Heinrich Maria Ledig-Rowohlt und hopst vor einem Bankier der Deutschen Bank auf einem Taschenbuch herum. "Die können draußen liegen bleiben, da kann es draufregnen und die können Sie dann morgen weiterlesen." So zumindest schildert der Verleger 1978 in einem "Playboy"-Interview, wie es mit dem Taschenbuch in der jungen Bundesrepublik losging. Der Bankier habe sich dagegen entschieden, in das neue Projekt des Rowohlt Verlags zu investieren und stattdessen mehrere Millionen Mark "einem schwäbischen Kerl gegeben, der in Vasen Radios einbaute und sich davon goldene Berge versprach". Das Vasenradio-Unternehmen geht pleite. Der Rowohlt Verlag hingegen findet einen privaten Investor und wird mit dem Verkauf seiner ersten Taschenbücher am 17. Juni 1950 Geschichte schreiben. Schnell wird der Titel der Reihe rororo gleichbedeutend für das handliche und günstige Buchformat.

Militärregierung schickt deutsche Verleger nach Übersee

Heinrich Maria Ledig im Portrait. © Rowohlt Verlag
Den Nachnamen seines berühmten Vaters verschwieg der innovative Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt meist.

Ledig-Rowohlt ist ein unehelicher Sohn der Verlegerpersönlichkeit Ernst Rowohlt. Nach dem Krieg bekommt er im November 1945 von der US-amerikanischen Militärregierung recht schnell eine Verlagslizenz für Stuttgart. Sein damals knapp 60 Jahre alter Vater Ernst kann mithilfe einer britischen Lizenz etwa ein Jahr später den Rowohlt Verlag in Hamburg neu gründen. Die Begeisterung für das "pocket book" wird bei Ledig-Rowohlt 1949 in den USA geweckt. Zusammen mit anderen von der Militärregierung ausgewählten Verlegern lernt er mehrere Wochen das Verlagswesen in Übersee kennen. Anders als in der ehrwürdigen deutschen Buchbranche sind die Verlage in Boston und New York wie Industrieunternehmen ausgelegt. Das "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" schätzt die kulturellen Unterschiede seinerzeit als zu gravierend ein, als dass die amerikanische Herangehensweise auch in Deutschland Erfolg haben könnte. Ledig-Rowohlt jedoch ist begeistert.

Literatur auf Zeitungspapier: Rowohlt Rotations-Romane

Ernst Rowohlt im Portrait. © Rowohlt Verlag
Ernst Rowohlt mit einem auf Zeitungspapier gedruckten Rowohlt Rotations-Roman.

Seit Herbst 1946 erscheint bereits der Vorgänger des Taschenbuchs, der Rowohlt Rotations-Roman (RO-RO-RO). Die Buchdruckereien sind zerstört, Papier nach dem Krieg rar. Die auf großformatigem Zeitungspapier gedruckten Romane kosten 50 Pfennig bis 1,50 Mark pro Ausgabe - und sind bei einer Auflage von 100.000 Exemplaren pro Titel nach wenigen Tagen ausverkauft. Was zunächst ein Verkaufsschlager ist, wird mit der Währungsreform zum Ladenhüter. Die Kaufkraft kehrt nach Westdeutschland zurück und mit ihr der Wunsch nach einem Buch in der Hand. Trotzdem hält Ledig-Rowohlts Vater Ernst Rowohlt zunächst nichts davon, auch hier "pocket books" auf den Markt zu bringen. Doch dem Vater droht an der Elbe die Pleite, er braucht eine Fusion mit dem Verlag des Sohnes. Ledig-Rowohlt stimmt erst zu, als Ernst Rowohlt im schriftlich Handlungsfreiheit zusichert - und nutzt diese Freiheit für die Entwicklung des Taschenbuchs.

14 Tage vom Manuskript zum Taschenbuch

Finanziert werden die ersten Taschenbücher vom vermögenden Niklas Fürst Salm-Salm, der dem Verlag 100.000 Mark zur Verfügung stellt. Rowohlt-Autor Gregor von Rezzori überzeugt ihn und seine Frau, dass das Geld dort gut angelegt ist. In Druck gehen die ersten Auflagen 1950 im nordfriesischen Leck bei Christian Jessen Sohn, später bei der Großdruckerei Clausen & Bosse. Verwendet wird dafür eine Rotationsmaschine aus den 1930er-Jahren im Doppelnutzen-Verfahren. Zwei Bücher werden dabei auf einem Bogen übereinander angeordnet und so Druckzeit gespart. Gebunden werden die Seiten wiederum in einem neuen Klebeverfahren nach Emil Lumbeck bei der Firma Hans Ehlermann im niedersächsischen Verden. Vom Manuskript bis zum fertigen Buch dauere es höchstens 14 Tage, sagt Ernst Rowohlt kurz vor Verkaufsstart dem "Spiegel". Damit die Taschenbücher auch optisch ein Blickfang sind, seien die Umschläge "reißerisch sensationell" gestaltet. Die Buchhändler hätten dem Rowohlt Verlag die ersten 200.000 Exemplare "schon aus dem Lager gerissen", schreibt das Nachrichtenmagazin. Zwei Tage später gehen die ersten Taschenbücher für 1,50 Mark pro Ausgabe über die Tresen.

Ernst Rowohlt. © picture-alliance / dpa
AUDIO: Ernst Rowohlt über seine "rororo"-Taschenbücher (3 Min)

Die ersten Titel: Fallada, Tucholsky und Kipling

Die ersten vier Titel sind "Kleiner Mann - was nun?" von Hans Fallada, "Schloss Gripsholm" von Kurt Tucholsky, "Am Abgrund des Lebens" von Graham Greene und "Das Dschungelbuch" von Rudyard Kipling. Bis Mitte Oktober folgen weitere acht Bände. Im März 1952 sind es bereits 50 Titel in einer Gesamtauflage von 2,8 Millionen Exemplaren. Da erst ziehen Verlage wie Fischer, Goldmann und Ullstein nach. Die Leser sind laut einer Verlagsumfrage meist akademisch gebildet, oft Ärzte, Juristen und Ingenieure - und junge Menschen. "Das ist für mich persönlich das allerwichtigste", sagt Rowohlt. In Zukunft wolle der Verlag vermehrt auf junge Autoren setzen, die zum ersten Mal gedruckt werden.

Kleines Buch, große Innovationen - und eine Werbeseite

Günstige, handliche Bücher sind seinerzeit nicht neu. Besonders sind sie wegen vieler Merkmale wie dem schnellen Rotationsdruck, der innovativen Klebe- statt Fadenbindung, ihrer knalligen Umschläge statt dezenter Leineneinbände, der großen Auflage, der regelmäßigen Erscheinungsweise und nicht zuletzt wegen ihres Preises. Um den möglichst gering zu halten, platziert der Rowohlt Verlag in jedem Taschenbuch mitten im Text eine Werbeseite. Zunächst wirbt der Hamburger Konzern Reemtsma für seine Zigaretten, später auch Mineralöl-Konzerne und Parfüm-Hersteller. Konservative Verleger und Leser sind empört über die "geschmacklose und kulturwidrige Reklame". Ernst Rowohlt rät nüchtern dazu, die Anzeigenseite raußzureißen, wenn sie denn störe.

Reihen wie rororo aktuell und Thriller erscheinen

Später verlegt Rowohlt nicht mehr nur Romane im Taschenbuch-Format, es folgen zahlreiche Reihen wie eine Enzyklopädie, Klassiker und Monographien. 1961 erscheint die erste Ausgabe von rororo aktuell: Martin Walsers "Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung?" öffnet das Spektrum für politische Sachbücher, die sich kritisch mit Gegenwartsproblemen auseinandersetzen. Herausgeber ist der Schriftsteller Fritz J. Raddatz, der mit Ledig-Rowohlt turbulente Jahre im Verlag erlebt. Eine weitere Reihe besteht aus Thrillern. Hier gehen die Meinungen von Vater und Sohn - wie so oft - auseinander. "Mein Vater war angewidert von dem Gedanken, dass bei Rowohlt Krimis als Taschenbücher erscheinen sollten", sagt Ledig-Rowohlt im damaligen "Playboy"-Interview. Ein Lektor habe Ernst Rowohlt dann doch überzeugen können, dass es auch "literarische Kriminalromane" gibt.

280 Millionen Taschenbücher allein von Rowohlt

Wenn Heinrich Maria Ledig-Rowohlt und Ernst Rowohlt etwas einte, war es wohl die große Leidenschaft für Literatur. Der ist der Verlag, den sie über Jahrzehnte prägten, auch lange nach ihrem Tod treu - und den Taschenbüchern. Inzwischen hat allein der Rowohlt Verlag 12.523 Titel in dem Format veröffentlicht - mit insgesamt 280 Millionen Exemplaren. Das beliebteste Taschenbuch der vergangenen Jahre ist eigenen Angaben zufolge Wolfgang Herrndorfs "Tschick". Seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2010 wird der mehrfach ausgezeichnete Roman drei Millionen Mal verkauft.

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Ernst Rowohlt hält einen Rowohlt-Rotations-Roman in den Händen. © picture-alliance/dpa

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NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 13.05.2019 | 16:20 Uhr

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