Stand: 07.01.2015 10:45 Uhr

Shlomo Venezia: Zwangsarbeit im Sonderkommando

Shlomo Venezia © picture alliance / Effigie/Leemage Foto: ©Effigie/Leemage
Shlomo Venezia kann erst Jahrzehnte nach dem Krieg über seine Zeit als Gefangener im Sonderkommando Auschwitz sprechen.

Shlomo Venezia ist 20 Jahre alt, als die Nazis ihn und seine Familie 1944 aus Griechenland nach Auschwitz verschleppen. Dort wird er von der SS für das berüchtigte Sonderkommando ausgewählt und zur Arbeit in den Gaskammern und Krematorien gezwungen. Venezia überlebt als einer von wenigen Gefangenen das Sonderkommando. Doch es dauert Jahrzehnte, bis er über seine Zeit im KZ reden kann. 2006 schildert er sein Leben in dem Buch "Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz".

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Krematorium und Gaskammer © NDR Foto: Christian Spielmann

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Als Venezia elf Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Der Junge muss die Schule verlassen und durch alle möglichen Jobs mithelfen, die Familie zu ernähren. In den Jahren 1943 und 1944 deportieren die Nazis mehr als 55.000 Juden aus Griechenland, auch die Venezias sind darunter. In Auschwitz werden Shlomo und sein Bruder von der Mutter und den zwei jüngeren Schwestern getrennt. Im Zuge der "Endlösung der Judenfrage" sind die Nazis dazu übergegangen, die meisten verschleppten Juden sofort in den Gaskammern zu töten, vor allem Frauen und Kinder. Kräftigere Häftlinge müssen zunächst Zwangsarbeit leisten. Venezia, seinen Bruder und seine Cousins wählt die SS für die Arbeit im Sonderkommando aus: Sie müssen die zum Tod bestimmten Gefangenen in die Gaskammern führen. Anschließend entfernen die Männer des Sonderkommandos den Leichen Goldzähne, Prothesen und Haare. Dann müssen sie die Leichen verbrennen, übrig gebliebene Knochenstücke der Opfer zermalmen und die Asche beseitigen.

"Der durchdringende Geruch haftete an den Händen"

Shlomo Venezia als junger Mann © Albin Michel
Venezia muss als junger Mann die Leichen vergaster Menschen verbrennen.

Die Gefangenen, die im Sonderkommando arbeiten müssen, erhalten bessere Verpflegung als die übrigen Häftlinge. Diese bekommen so wenig Essen, dass sie verhungern, wenn sie nicht vorher auf andere Weise zu Tode kommen. Venezia beschreibt in seinem Buch detailliert die grauenhafte Arbeit in den Gaskammern und Krematorien, wie rasch alles Menschliche von den Männern gewichen sei: "In den ersten Tagen fiel es mir schwer, trotz des quälenden Hungers das Stück Brot zu berühren, das wir erhielten. Der durchdringende Geruch haftete an den Händen und ich fühlte mich durch diesen Tod beschmutzt. Mit der Zeit musste man sich an alles gewöhnen. Es wurde zu einer Routine, die man sich nicht mehr bewusst machen wollte." Venezia schreibt, dass Häftlinge, die sich weigerten im Sonderkommando zu arbeiten, umgebracht wurden. Doch auch die, die mitmachen, wissen, dass sie früher oder später getötet werden sollen - die SS kann keine Zeugen des Massenmordes gebrauchen.

Venezia trifft Verwandten vor der Gaskammer

Venezia berichtet von vielen furchtbaren Begebenheiten. Einmal trifft er im Entkleidungsraum vor der Gaskammer einen Verwandten, Leon Venezia, einen Vetter seines Vaters: "Er war nur noch Haut und Knochen, und auch seine Stimme hatte sich verändert. Er war mit demselben Transport deportiert worden wie ich." Leon hatte sich bei der Zwangsarbeit eine Verletzung zugezogen, war für die Deutschen wertlos geworden und nun zur "Vernichtung" bestimmt. "Ich nahm ihn am Arm, und er stellte mir Fragen, die mich tief erschütterten: 'Wie lange dauert es, bis man stirbt? Muss man viel leiden?' Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte, also habe ich gelogen und ihm gesagt, dass es nicht lange dauerte und man nicht leiden musste."

Sonderkommando-Häftlinge revoltieren

In Venezias Sonderkommando-Zeit fällt auch die einzige größere Revolte von Auschwitz-Häftlingen: Am 7. Oktober 1944 gehen Gefangene mit Waffen und Steinen auf SS-Wärter los. Andere zerstören eines der Krematorien und beschädigen ein weiteres. Den Sprengstoff dafür hatten Häftlinge aus einer Munitionsfabrik, in der sie arbeiten mussten, ins Lager geschmuggelt. Organisiert wurde der Aufstand vor allem von Häftlingen aus dem Sonderkommando. Venezia erfährt jedoch erst in letzter Minute von den Plänen. "Ich war zu jung und erst zu kurz dabei, um in die Vorbereitungen eingeweiht zu werden." Nach ein paar Stunden ist die Revolte niedergeschlagen. Die SS tötet wegen des Aufstandes sofort mehr als 450 Häftlinge. Venezia gehört zu einer Gruppe, die die Arbeit der ermordeten Sonderkommando-Häftlinge fortsetzen muss.

Kurz vor der Befreiung wird die Gefahr am größten

Ende 1944 ist auch das Ende des Krieges absehbar - der Einflussbereich Nazideutschlands in Europa hat sich stark verkleinert. In Auschwitz beginnen die Vorbereitungen zur Aufgabe des Lagers. Immer öfter sind Flugzeuge der Alliierten zu sehen, russische Truppen rücken näher. Im Januar 1945 sind die Häftlinge des Sonderkommandos besonders gefährdet. Sie sollen noch getötet werden, bevor die SS türmt. Venezia und anderen aus dem Sonderkommando gelingt es in diesen Wirren, sich einer Gruppe von Häftlingen anzuschließen, die aus Auschwitz-Birkenau Richtung Westen in andere Lager verlegt werden soll. Venezia überlebt die "Todesmärsche", die die Gefangenen mitten im Winter über Hunderte Kilometer zu Fuß und praktisch ohne Essen und wärmende Kleidung zurücklegen müssen. Venezia wird noch in verschiedenen Lagern als Zwangsarbeiter missbraucht, bevor er am 6. Mai 1945 von amerikanischen Soldaten im österreichischen Ebensee befreit wird.

"Dass er ein so guter Mann geblieben ist"

Buch-Tipp:

Shlomo Venezia (in Zusamenarbeit mit Béatrice Prasquier): "Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz. Das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden", Karl Blessing Verlag, München 2008. (Im Original erschienen bei Albin Michel, Paris 2006.)

Kurz danach erfährt Venezia, dass er schwer an Tuberkulose erkrankt ist. Er verbringt mehrere Jahre in Krankenhäusern. In Italien besucht er eine Hotelfachschule, arbeitet schließlich in einem Hotel in Rimini. Venezia gründet eine Familie. Später eröffnet er mit seiner Frau ein Bekleidungsgeschäft in Rom. Mit ihr und seinen Söhnen kann er lange Zeit nicht über seine Erlebnisse im Sonderkommando sprechen. "Ich hätte ihnen damit nur unnötig eine schwere Last aufgebürdet." Venezias Frau Marika erfährt erst nach und nach, was ihr Mann in Auschwitz tun musste. Er habe ständig Albträume gehabt, erinnert sie sich 2002 in dem Buch "Zeugen aus der Todeszone". "Ich bewundere ihn sehr", sagt seine Frau damals, "ich glaube er war wirklich stark, dass er das so mitgemacht hat und ein so guter Mann geblieben ist." Anfang der 1990er-Jahre beginnt Venezia, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen: "Da traute sich der Antisemitismus in Italien wieder ans Tageslicht. Man sah mehr und mehr Hakenkreuze an den Mauern", erzählt Venezia. Er hält in Schulen Vorträge und kehrt 1992 zum ersten Mal nach Auschwitz zurück. "Es tröstet mich zu wissen, dass ich nicht ins Leere rede, denn von meinen Erlebnissen zu berichten ist ein großes Opfer. Jedes Mal wecke ich damit dieses quälende Leid, dass mich nie verlassen wird. Es ist ein innerer Makel, ich nenne ihn die 'Krankheit der Überlebenden'. Diese Krankheit erlaubt keinen Augenblick der Freude oder Unbekümmertheit." Im Jahr 2012 stirbt Shlomo Venezia im Alter von 88 Jahren in Rom.

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