Tennisspielerin Naomi Osaka bei den US Open 2019 © picture alliance / abaca | Dubreuil Corinne/ABACA

Profitennis in den Medien: Was wir von Naomi Osaka lernen können

Stand: 01.06.2021 18:15 Uhr

Nachdem Tennisspielerin Naomi Osaka für ihren Medienboykott stark kritisiert wurde, hat sie sich dafür entschuldigt und die French Open verlassen. Das sollte jedoch nicht zum Anlass genommen werden, ihr Anliegen abzuwerten.

Kommentar von Fritz Lüders

Naomi Osaka war im vergangenen Jahr die bestverdienende Sportlerin der Welt. 55 Millionen US-Dollar soll die Tennisspielerin 2020 eingenommen haben. Das lag auch an dem Gewinn von zwei Grand-Slam-Turnieren hintereinander und profitablen Werbedeals. Dass ausgerechnet sie bei den French Open die Pressekonferenzen boykottierte, sorgte bei aktiven und ehemaligen Tennisprofis, Expertinnen und Experten sowie Medienschaffenden für Unverständnis. Der Tenor: Ohne die große Berichterstattung über sie hätte Osaka niemals ihren kommerziellen Erfolg gehabt. Und die Reichweite, von der sie nun profitieren möchte, hätte es auch nicht gegeben.

Diese Reaktionen waren zum Teil schon vor dem Turnier zu hören. Da kündigte die 23-Jährige ihren Presseboykott in den sozialen Netzwerken an und erklärte: "Ich habe oft gefühlt, dass Menschen keine Rücksicht auf die mentale Gesundheit der Athleten nehmen. Das zeigt sich besonders, wenn ich mir Pressekonferenzen anschaue oder an einer teilnehme", schrieb Osaka bei Instagram und Twitter. "Wir bekommen häufig die immer gleichen Fragen gestellt oder solche, die Zweifel in unseren Köpfen säen." Im Fokus ihrer Kritik: die vertragliche Verpflichtung, an Pressekonferenzen teilzunehmen - ohne Rücksicht darauf, in welcher mentalen Verfassung sich die Spielerinnen und Spieler befinden.

"Auf Sand nicht so erfolgreich"

Wie begründet Osakas Statement samt Boykott waren, zeigte sich schnell. Die Reaktionen darauf spiegelten genau das wieder, was die Weltranglistenzweite zuvor kritisierte. Bei Eurosport äußerte sich Barbara Rittner. Dass Osaka so kurz vor einem Grand-Slam-Turnier ihren Boykott ankündigte, verleitete die Bundestrainerin zu einer fragwürdigen These: "Sie (Osaka, Anm. d. Red.) erzählt viel über Mental Health, aber für mich ist das eine gemachte Geschichte. Und das passt, wenn man das Gesamtbild sieht: Sie ist nun mal bisher auf Sand noch nicht so erfolgreich." Ihr Co-Kommentator Boris Becker bediente sich anschließend der Phrase, dass Osaka nunmal mit Medienarbeit ihr Geld verdiene und auch ihre Kollegen Novak Djokovic, Rafael Nadal oder die deutsche Angelique Kerber meldeten sich zu Wort. Medienarbeit sei Teil des Jobs, sagten sie, und das, was Osaka mache, ginge insgesamt zu weit. Später reagierten auch die Organisatoren der vier Grand-Slam-Turniere mit einem offiziellen Statement, verwiesen auf die geltenden Regeln und drohten Osaka mit einem Ausschluss vom Turnier in Frankreich und von künftigen Grand Slams. Empathie und Unterstützung? Eher Fehlanzeige.

Das alles brachte Osaka am Montagabend dazu, ihr erstes Statement zu löschen und ein neues zu veröffentlichen. Sie werde vorzeitig die French Open verlassen, schrieb sie darin und entschuldigte sich bei all den "coolen Journalisten, die ich vielleicht verletzt habe". Doch im Mittelpunkt stand eine viel wichtigere Aussage. Osaka habe seit 2018 lange Kämpfe mit Depressionen und eine schwere Zeit gehabt. Außerdem leide sie unter sozialen Ängsten, weshalb Medienarbeit für sie eine Herausforderung sei.

Die 23-jährige Einzelsportlerin macht damit genau das, was eigentlich Verbände und Medien tun sollten: Sie enttabuisiert das Thema "mentale Probleme im Profisport", reflektiert ihr Verhalten, reagiert auf Kritik und zieht daraus Konsequenzen. Ihr eigentliches Anliegen sollte daher nicht als ein angstgeleitetes Fehlverhalten abgetan werden. Wie Naomi Osakas Boykott öffentlich diskutiert wurde, zeigt deutlich: Sie hat Probleme angesprochen, die nach wie vor existieren. Im Profitennis wird zu wenig Rücksicht auf die mentale Gesundheit der Spielerinnen und Spieler genommen.

Ein Tennisball liegt an einem Tennisnetz. © IMAGO / photothek
Etwa 20 Prozent der Menschen im Leistungssport haben einmal in ihrem Leben Depressionen, so das Ergebnis einiger Studien.

Dass Sportstars Millionen verdienen schützt sie nicht vor Depressionen und Ängsten. Im Gegenteil: Psychische Störungen treten bei ihnen mindestens genauso häufig auf wie in der gesamten Gesellschaft. "Es gibt Studien aus mehreren Arbeitsgruppen, die herausgefunden haben, dass circa 20 Prozent der Menschen im Leistungssport einmal in ihrem Leben Depressionen haben", sagt die Psychologin Marion Sulprizio von der Sporthochschule Köln. Doch das öffentliche Bild bleibe ein anderes, "denn Sport ist ja eigentlich gesund". Laut Sulprizio besitzen Spitzensportlerinnen und -sportler wie jeder Mensch eine Vulnerabilität, also eine Anfälligkeit für psychische Krankheiten. Äußere Faktoren wie Druck triggern diese. Das können auch ständige Pressekonferenzen sein - wie im Fall von Naomi Osaka.

Zu wenig Empathie

"Im Spitzensport muss Leistung gebracht werden und viele Leute wollen mitverdienen", sagt der freie Journalist und Tennisexperte Jannik Schneider gegenüber ZAPP. Schneider ist bei den French Open akkreditiert und berichtet für Zeit Online, Sportschau und seinen eigenen Podcast. "Man hat an den Reaktionen gemerkt, dass für die Verbände und Entscheidungsträger die sportlichen Belange eine größere Rolle gespielt haben als die mentale Gesundheit." Zwar hätten die Verantwortlichen offiziell nichts falsch gemacht, da sie sich an die geltenden Regeln gehalten und auf diese verwiesen hätten. Aber menschlich könne man ihnen vorwerfen, dass sie außer in den gängigen Statements und Sympathiebekundungen zu wenig Empathie gezeigt hätten. "In den Sportverbänden sitzen nicht nur, aber auch alte Männer, die das moderne Menschenbild und Bewusstsein einer jungen Generation nicht ganz verstehen", sagt Schneider. "Als Journalist muss man sich täglich hinterfragen, denn wir arbeiten mit Menschen zusammen und berichten über Menschen." Doch andererseits dürfe es auch nie soweit gehen, dass Journalistinnen und Journalisten keine kritischen Fragen mehr stellten - zum Beispiel, wenn es um investigative Themen oder Doping gehe. 

Der Vorwurf von Osaka, dass Fragen häufig redundant sind oder auf persönliche und sensible Themen abzielen, ist jedenfalls kaum zu entkräften. Müssen Misserfolge den Betroffenen unter die Nase gerieben werden, wenn es für die Berichterstattung eigentlich unnötig ist? Sollten ehemalige Leader der Weltrangliste jahrelang gefragt werden, wann sie endlich wieder richtig performen? Und sollte man die Erwartungen einer ganzen Nation ungefiltert an Einzelsportler weitergeben?

Was Medien tun können

Sportjournalistinnen und -journalisten könnten ihren Teil zur Besserung beitragen, so lange wie Verbände und Entscheidungsträger am Status quo festhalten. „Wenn jemand sagt, ich möchte mit euch nicht reden, dann bedeutet das nicht gleich: Da hat jemand keinen Bock oder ist arrogant“, sagt Psychologin Marion Sulprizio. Sie hofft, dass Medienschaffende noch stärker für das Thema sensibilisiert werden. „Zum Beispiel durch eine zusätzliche Ausbildung.“ Denn das Bild des kerngesunden Superhelden ist nicht nur falsch, sondern kann auch psychisch kranken Tennisprofis weiter schaden. Daher sollten sich Pressevertreterinnen und -vertreter noch intensiver mit ihrem Gegenüber und seiner Vergangenheit auseinandersetzen, bevor es zum Interview kommt. So könnten sensible Themen vermieden werden, wenn diese für die Berichterstattung nicht relevant sind.

Doch letztendlich stehen besonders die Verantwortlichen der großen Turniere in der Pflicht. Sie müssen die Rahmenbedingungen schaffen, die Spieler schützen und gleichzeitig Medienarbeit ermöglichen. Es wäre eine vertane Chance, wenn Naomi Osakas Mut und ihre Kritik nichts verändern würden. In ihrem letzten Statement schreibt Osaka, dass sie gerne mit der ATP Tour zusammenarbeiten möchte, um eine Lösung für Profis, Medien und Fans zu erarbeiten. „Ich hoffe, dass eine Diskussion angeregt wird und Spieler und Verantwortliche sich zusammensetzen“, sagt auch der freie Journalist Jannik Schneider. Vielleicht seien Pressekonferenzen eines Tages für Spielerinnen und Spieler nicht mehr verpflichtend – auch wenn das zum Nachteil von Journalistinnen und Journalisten wäre.

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