Sendedatum: 22.03.2020 19:30 Uhr

Zeitreise: Als Birkensaft zum Haarwuchswunder wurde

von Julia Lindenau

Es galt als das Wundermittel: Jahrzehntelang glaubten und hofften vor allem die Männer, dass "Dr. Dralles Birkenhaarwasser" hält, was es verspricht: nie mehr Haarausfall. Und so tropfte und massierte der Mann, was das Zeug hielt und sagte der spärlichen Kopfbedeckung den Kampf an. Der Stoff für dieses Haarwasser - mit den natürlichen Superkräften - kam unter anderem aus einem kleinen Wäldchen im Kreis Pinneberg. Dank des Birkensaftes aus Bönningstedt wurde das Haarwasser - das vielen unter dem Namen "Birkin" noch bekannt sein müsste - weltweit zum Verkaufsschlager.

Eine Badewanne als Inspirationsquelle

Angefangen hatte alles in einer Badewanne. Dort mischte der Hamburger Unternehmer Georg Justus Dralle vor gut 140 Jahren Birkensaft mit hochprozentigem Alkohol. Aus einem Tipp von Waldarbeitern wollte er unbedingt ein Geschäft machen. Dass der Saft aus Birken den Haarwuchs und sogar die Manneskraft stärken sollte, erfuhr die Familie während einer Reise im Harz. "Dann ist er nach Hamburg zurückgekommen und hat in der Badewanne angefangen, dieses Haarwasser auf Ethylalkoholbasis und Wasser herzustellen", erinnert sich Nachfahre Jörg Breckwoldt.

"Als das Produkt dann langsam interessant wurde, hat er sich nach geeigneten Räumlichkeiten umgesehen. Mein Urgroßvater wollte das Haarwasser im großen Stil vermarkten." 1889 kaufte der Drogist ein Fabrikgelände in Hamburg Ottensen und begann dort, das Birkenhaarwasser zu produzieren. Heute ist auf dem ehemaligen Fabrikgelände ein Werkhof, wo Architekten, Werber und Künstler arbeiten.

Durchbruch durch Birkensaft

Als Seifen- und Parfümhersteller hatte sich Familie Dralle damals bereits einen Namen gemacht. Ihr Geschäft in der Hamburger Innenstadt lief gut. Die Idee mit dem Birkensaft aber war der Durchbruch. "Unser Haarwasser war das erste Pflegeprodukt auf Birkensaftbasis", sagt Jörg Breckwoldt, der als Chemiker später selbst die Produktion des Familienunternehmens leitete. "Wir haben das Produkt auch entsprechend beworben, waren damit weltweit auf dem Markt." Die Werbemaschinerie lief auf Hochtouren, es gab zahlreiche internationale Auszeichnungen. Manch einer vermutete sogar ein medizinisches Produkt dahinter, schließlich hieß es nicht umsonst "Dr. Dralles Birkenhaarwasser". Erst später taufte die Familie ihren Bestseller in "Birkin" um.

Mehr Haare dank Reifeprozess?

Vier Wochen lagerte das mit Birkensaft angereicherte Haarwasser in alten Eichenfässern, reifte für den Haarwuchs. "Wir haben reinen Trinkbranntwein verwendet. Deshalb ist immer, wenn wir den Alkohol hier angeliefert bekamen, der Zoll dabei gewesen und hat solange dabei gestanden, bis wir mit dem Parfüm den Alkohol vergällt hatten. Damit wir das nicht mehr in Flaschen füllen und dann Gin oder Cognac herstellen konnten", erzählt Jörg Breckwoldt.

250.000 Liter Birkensaft gezapft

Henry Blohme und ein Helfer filtern Birkensaft in ein Eichenfass im März 1947. © Birkin
Dieses Foto stammt aus dem März 1947: Helfer filtern den Birkensaft in ein Eichenfass, um ihn später weiterzuverarbeiten.

Den Stoff für das Wundermittel gab es rund 20 Kilometer entfernt. In einem kleinen Wäldchen bei Bönningstedt (Kreis Pinneberg) sammelte Liselotte Dreyer die mit Birkensaft vollgelaufenen Flaschen ein. Von 1950 bis 1975 war der Winzeldorfer Birkenwald das "Erntezentrum" der Firma Dralle. In den 25 Jahren wurden hier rund 250.000 Liter Birkensaft gezapft. Die Hochsaison dauert nur bis zu drei Wochen. Nach dem Frost, bevor die Blätter sprießen, war die beste Zeit.

Einen Liter Birkensaft für eine Mark

"Die Tage davor, ist der Bauer immer mal wieder in den Wald gegangen und hat Probebohrungen gemacht und geschaut, ob die Birken schon Saft haben", erinnert sich Lieselotte Dreyer. "Wir waren drei bis vier Frauen, die geholfen haben. Wenn es soweit war, hat uns der Bauer morgens mit dem Trecker eingesammelt und wir sind in den Wald gefahren. Die Männer haben die Löcher gebohrt und wir die Flaschen an den Baum gestellt. Am Abend haben wir dann die vollen Flaschen wieder eingesammelt." Gut bezahlt sei es gewesen: Für einen Liter Birkensaft soll es damals eine Mark gegeben haben. Wenn das Wasser der Birken trüb wurde, war die Saison vorbei. 500 Birken wurden jährlich gezapft, immer im Wechsel, um die Bäume zu schonen. Und die eine oder andere Party soll es in dieser Zeit auch gegeben haben.

Reine Kopfsache

"Wir waren lange Zeit weltweit die Nummer eins", sagt Jörg Breckwoldt. Zusammen mit seinen beiden Brüdern übernahm er 1972 die Geschäfte. Als seine Geheimratsecken immer größer wurden und auch sein Vater eine Glatze bekam, ging der studierte Chemiker der Sache mal so richtig auf den Grund. "Wir haben zusammen mit der Universität Kiel den Birkensaft, der ja der Hauptbestandteil war, und andere Pflanzenextrakte geprüft und nichts gefunden, was den Haarwuchs deutlich verbessert oder verändert", erinnert er sich. "Wir haben deswegen neue Produkte entwickelt, die auf den Haarwuchs Einfluss hatten."

Ein weltweiter Erfolg, der auf einer großen Werbemaschinerie basierte. Vor 30 Jahren verkaufte die Familie das Unternehmen dann an L’Oréal. In neuer Rezeptur gibt es das Birkin-Haarwasser noch heute zu kaufen - als natürliche Pflege für die Kopfhaut, aber nicht mehr als Haarwuchswunder.

Weitere Informationen
Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 22.03.2020 | 19:30 Uhr

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