Verfassungswidrig? Weniger Geld für alleinstehende Geflüchtete

Stand: 27.04.2021 12:00 Uhr

Viele alleinstehende Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften bekommen jeden Monat weniger Geld als allein lebende Asylsuchende. Unabhängig von ihrer Herkunft, Kultur und Religion sollen sie gemeinsam mit ihren Nachbarn und Nachbarinnen wirtschaften - so wie Ehepaare.

von Nadja Mitzkat, Hannes Stepputat

John Ogannaya © NDR Foto: Screenshot
Kann sich mit seinem Zimmernachbarn kaum unterhalten, soll aber gemeinsam mit ihm wirtschaften: John Ogannaya.

Seit Oktober 2020 ist John Ogannaya in Deutschland. Sein Zimmer in einer Greifswalder Gemeinschaftsunterkunft teilt sich der Mann aus Nigeria mit einem anderen Asylsuchenden. Obwohl sie nun schon einige Monate zusammenleben, weiß Ogannaya kaum etwas über seinen Zimmernachbarn. Er erzählt, dass sie sich kaum verständigen könnten.

"Einspareffekte wie bei Paaren"

Doch weil sie zusammenwohnen, sollen Ogannaya und sein Zimmernachbar auch zusammen wirtschaften. Statt der regulären Unterstützung von 364 Euro im Monat, stehen ihnen jeweils nur 328 Euro zu.

Möglich macht das eine Gesetzesänderung von September 2019. Auf Betreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wurde damals eine neue niedrigere Bedarfsstufe für alleinstehende Geflüchtete eingeführt. In der Gesetzesbegründung heißt es, durch das Zusammenleben der Asylsuchenden ergäben sich "Einspareffekte", die "denen in Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar sind".

Sabine Ziesemer ist John Ogannayas Anwältin. Sie ist auf Asyl- und Migrationsrecht spezialisiert. Die Annahme des Ministeriums kritisiert Ziesemer als realitätsfern. "Ich halte es für einen Irrglauben, dass Menschen, die sich überhaupt nicht kennen, die eine Zwangsgemeinschaft bilden, miteinander wirtschaften", sagt Ziesemer.

Sabine Ziesemer, Anwältin © NDR Foto: Screenshot
Geht gegen die Kürzungen vor: Sabine Ziesemer, Anwältin.

Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, gegen die aus ihrer Sicht unrechtmäßigen Kürzungen vorzugehen. Schon mehrmals ist sie für Mandantinnen und Mandanten in Gemeinschaftsunterkünften bis vor das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern gezogen.

Sozialgericht zweifelt an Verfassungsmäßigkeit

In allen Fällen haben die Richterinnen und Richter den Betroffenen die höhere Bedarfsstufe und damit mehr Geld zugesprochen. Es hätten sich "keine Anhaltspunkte für ein gemeinsames Wirtschaften ergeben", sagt Torsten Kelm. Er ist einer der Richter des Landessozialgerichts.

Zudem lägen die Bedarfssätze für Asylsuchende noch unter den Hartz-IV-Sätzen. Man bewege sich hier im Bereich des Existenzminimums. Hier, so Kelm, müssten die Gesetzgebenden Kürzungen sehr genau begründen. Das Gericht habe "erhebliche Zweifel", dass das passiert sei. Es gäbe "keinerlei Belege für die vom Ministerium behaupteten Einspareffekte".

Torsten Kelm © NDR Foto: Screenshot
Torsten Kelm ist einer der Richter des Landessozialgerichts.

Echte Belege kann das Ministerium auch auf NDR Nachfrage nicht vorlegen. In einer schriftlichen Stellungnahme verweist eine Sprecherin auf zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts und eine Studie der Ruhr-Universität Bochum von 2013 - sie alle beziehen sich aber auf Paare und nicht auf Asylsuchende.

Das Arbeitsministerium ist unter Zugzwang

Wiebke Judith von der Nichtregierungsorganisation Pro Asyl vermutet hinter der Einführung der neuen Bedarfsstufe noch andere Motive und weist auf deren Vorgeschichte hin: So wie die Hartz-IV-Sätze jährlich an die Inflation angepasst werden, hätte der Gesetzgeber auch die Asylbewerberleistungssätze erhöhen müssen. "2019 war das aber schon seit drei Jahren nicht mehr erfolgt", sagt Judith.

Das Ministerium war also unter Zugzwang. Parallel zur überfälligen Anpassung der Leistungssätze wurde auch die neue niedrigere Bedarfsstufe eingeführt. Auffällig ist: Die Kosten, die durch die notwendige Erhöhung der Leistungssätze entstehen, werden in der Gesetzesbegründung mit 40 Millionen Euro beziffert. Genauso so hoch wie die erwarteten Einsparungen durch die Einführung der neuen niedrigeren Bedarfsstufe.

Betroffene klagen kaum

Sozialgerichte in ganz Deutschland sind sich weitgehend einig darin, dass das Gesetz in seiner jetzigen Form nicht verfassungsgemäß ist. Angst vor einer Klagewelle hat man im Bundesministerium für Arbeit und Soziales aber offenbar nicht. Nur ein Bruchteil der Betroffenen findet wie John Ogannaya den Weg zu einer Anwältin.

NDR Recherchen zeigen: Allein in Norddeutschland erhielten rund 13.200 Geflüchtete die niedrigere Bedarfsstufe, davon rund 2.000 in Mecklenburg-Vorpommern. Geklagt haben hier aber bisher weniger als ein Prozent aller Betroffenen.

Die Asylsuchenden seien darauf angewiesen, dass ihnen jemand das deutsche Rechtssystem erkläre, sagt Anwältin Ziesemer. Dies geschehe oftmals. John Ogannaya bekommt durch ihren Einsatz nun jeden Monat 36 Euro mehr. Ob das irgendwann auch für alle anderen Geflüchteten gilt, kann am Ende nur das Bundesverfassungsgericht klären.

Das Sozialgericht Düsseldorf hat am 19. April 2021 nun das Bundesverfassungsgericht angerufen: Es soll klären, ob die gekürzten Sozialleistungen in Geflüchteten-Unterkünften mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

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