Kindesmissbrauch: Warum löscht die Polizei die Bilder nicht?

Stand: 02.12.2021 06:00 Uhr

Darknet-Foren für den Tausch von Bildern, die Kindesmissbrauch zeigen, werden immer größer. Dennoch lassen Strafverfolger dort bisher kaum Inhalte löschen, obwohl sie es könnten.

von Lutz Ackermann, Robert Bongen, Benjamin Güldenring und Daniel Moßbrucker

Der 3. Mai 2021 bot für deutsche Strafverfolger die Chance, beim sonst so deprimierenden Thema Kindesmissbrauch eine erfreuliche Nachricht zu verkünden. Der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main und dem Bundeskriminalamt (BKA) sei es gelungen, die Hintermänner der "kinderpornografischen Darknet-Plattform Boystown" festzunehmen und die Server abzuschalten. Zweifellos ein großer Erfolg.

VIDEO: Kindesmissbrauch: Warum löscht die Polizei die Bilder nicht? (11 Min)

Bei einem seiner letzten Auftritte als geschäftsführender Bundesinnenminister bekräftigte Horst Seehofer, dass der Kampf gegen Kindesmissbrauch zu den drängendsten Aufgaben gehöre, mit denen sich die Strafverfolgung derzeit konfrontiert sieht. Er wies allerdings darauf hin, dass es neben der Rettung von Kindern und der Erfassung von Tätern ebenso wichtig sei, illegales Foto- und Videomaterial aus dem Netz zu entfernen. "Was für ein unermessliches Leid, das die Täter den Kindern zufügen! Das Bild- oder Videomaterial darf auf keinen Fall dauerhaft online abrufbar sein", sagte Seehofer auf der Herbsttagung des BKA Mitte November.

"Boystown"-Inhalte sind wieder online

Was Seehofer wohl nicht ahnte, als er die Worte sprach: Viele Missbrauchsaufnahmen der Plattform "Boystown" waren längst online wieder verfügbar, als die Ermittler im Mai die Öffentlichkeit über ihren Erfolg informierten. Dies ergaben gemeinsame Recherchen von Panorama, STRG_F und des Magazins "Der Spiegel". Ein User hatte eine "Privatkopie" des Forums an prominenter Stelle im Darknet geteilt, sodass sich Pädokriminelle weiterhin Boystown-Inhalte ansehen konnten.

Das BKA bekam davon offenbar nichts mit. Hätte das Amt die bei "Boystown" verlinkten Inhalte bei den entsprechenden Speicherdiensten gemeldet, wären sie endgültig aus dem Netz verschwunden. Diesen Schritt aber ging das BKA nicht. Während die Strafverfolger also die beschlagnahmten Server auswerteten, um den vier Festgenommenen ihre Taten nachzuweisen, konnten sich User weiterhin Fotos und Videos herunterladen, die den schweren Missbrauch von Kindern zeigen.

Dies hängt mit der besonderen Online-Architektur von Pädokriminellen-Netzwerken wie "Boystown" zusammen. Zwar nutzen sie zum Betreiben ihrer Plattformen das anonyme Darknet. Aber die Datenmengen ihrer Aufnahmen sind zu groß, um dort gespeichert zu werden. Daher wählen die Pädokriminellen stattdessen Speicherdienste im gewöhnlichen Internet, um ihr Material dort verschlüsselt hochzuladen. Im Darknet-Forum teilen sie dann nur einen entsprechenden Download-Link, oft mit Passwortschutz. Wer sich ein Video ansehen will, muss sich also den genauen Link im Darknet-Forum holen, die Daten selbst lädt er jedoch aus dem normalen Internet herunter. Die Speicherdienstbetreiber wissen nach Panorama-Recherchen meist nichts davon. Werden ihnen diese Links zu illegalen Inhalten auf ihren Servern gemeldet, sind die Unternehmen verpflichtet, sie umgehend zu löschen.

Ermittlungsbehörden lassen Aufnahmen nicht löschen

Im aktuell größten Darknet-Forum, in dem Fotos und Videos von schwerem Kindesmissbrauch geteilt werden, stehen derzeit mehr als 20 Terabyte - das sind 20.000 Gigabyte - an Bildmaterial zum Download. Das zeigen recherchierte Daten von November 2021. Diese Menge entspricht in etwa so viel, wie wenn ein Mensch über ein Jahr lang Tag und Nacht hochauflösende Videos schauen würde, die den Missbrauch von Kindern zeigen.

Die Recherchen belegen auch, dass es sehr einfach wäre, diese Aufnahmen löschen zu lassen. Da Ermittlungsbehörden sich jedoch nicht darum kümmern, können Pädokriminelle solche Fotos und Videos seit Jahren weiterverbreiten.

Julia von Weiler © NDR/ARD Foto: Screenshot
Julia von Weiler von "Innocence in Danger" kritisiert, dass Aufnahmen von sexuellem Missbrauch nicht regelmäßig gelöscht werden.

Betroffene von sexuellem Missbrauch schilderten Panorama, STRG_F und dem "Spiegel", wie traumatisch der Gedanke sei, dass Pädokriminelle auch Jahre nach dem Missbrauch die Aufnahmen in den Foren tauschen und sich daran erfreuen. "Die Polizei hätte die Möglichkeit, die Betroffenen davor zu bewahren, weiter ausgebeutet zu werden, indem sie die Aufnahmen regelmäßig löschen lässt", sagt Julia von Weiler von der Organisation "Innocence in Danger". "Dass die Polizei aber von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, weil es im Moment anscheinend nicht wichtig genug ist, das ist für die Betroffenen wirklich ein Schlag ins Gesicht."

"Zielkonflikt" für die Strafverfolgung

Julia Bussweiler © NDR/ARD Foto: Screenshot
Julia Bussweiler ist Staatsanwältin bei der Zentralstelle zur Bekämpfung von Internetkriminalität (ZIT).

Ermittlerinnen und Ermittler bekunden vor und hinter der Kamera unisono, wie wichtig es ihnen sei, die Inhalte so gut es geht aus dem Netz nehmen zu lassen. Julia Bussweiler von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main sieht allerdings einen Zielkonflikt in der Strafverfolgung: Wenn man ein Forum durch konsequentes Löschen "an den Rand der Existenz bringt, ist es das, was einen freut, weil es den Anlaufpunkt nicht mehr gibt. Auf der anderen Seite weiß man nicht, wo die User sich dann treffen."

Hans-Joachim Leon © NDR/ARD Foto: Screenshot
Hans-Joachim Leon, Leiter der Gruppe "Gewalt- und Sexualdelikte" im BKA, verweist auf die täterorientierte Arbeit der Behörden.

Hans-Joachim Leon, der Leiter der Gruppe "Gewalt- und Sexualdelikte" im BKA, dessen Einheit auch die Plattform "Boystown" abschaltete, betont im Interview, dass es zwar einerseits ein "essenzieller Auftrag auch an die Strafverfolgungsbehörden" sei, Missbrauchs-Dateien aus dem Netz entfernen zu lassen. Gerade bei ihren Ermittlungen im Darknet würden sie jedoch nicht löschen lassen. "Unsere Ermittlungen sind täterorientiert. Wir versuchen, die User zu bekommen. Wir sammeln keine Links ein", sagte Leon. Er verwies auf die personellen Ressourcen, die das Melden der Inhalte in Anspruch nähme - und die dann anderswo fehlten.

Muss es beim "Entweder Oder" bleiben?

Die Frage für die Zukunft wird sein, ob es beim aktuellen "Entweder Täter finden oder Inhalte löschen lassen" bleiben muss - oder ob es ein "Sowohl als auch" geben kann. Denn die Recherchen zeigen, dass sich hier mit geringen Mitteln erstaunliche Zahlen erreichen lassen. In einem Versuch sammelten Panorama-Datenjournalisten rund 80.000 Links zu illegalen Inhalten im aktuell größten Darknet-Forum ein, um sie anschließend zu melden. Das Sammeln der Links dauerte nur wenige Stunden, nach der Meldung bei den in- und ausländischen Speicherdiensten waren die Inhalte spätestens nach zwei Tagen gelöscht - nachdem sie zuvor bis zu sechs Jahre lang online gewesen waren. Dem Forum, das aktuell rund 3,7 Millionen User-Accounts hat, setzte die Löschung spürbar zu, weil ein Großteil der dort verlinkten Inhalte offline war.

"User zu Tode nerven"

So gelang es, auch Kontakt zum Administrator des Forums aufzunehmen. Er bestätigte, dass Strafverfolgungsbehörden bisher keine Inhalte, die auf seiner Plattform verlinkt sind, systematisch gemeldet hätten - obwohl dies die User "zu Tode nerven" könnte: Wenn man lang genug lösche, könne es passieren, dass die Leute gehen und die Administratoren "den Laden dichtmachten".

Die Ermittlungsbehörden spielen den Ball nun zurück zur Politik, die entscheiden solle, wie die vorhandenen Personalressourcen eingesetzt werden sollten. Vorzugsweise brauche es eine europäische Lösung, sagt Hans-Joachim Leon vom BKA. Aktuell kümmert sich nur das Canadian Center for Child Protection als private Initiative teilweise um Inhalte-Meldungen bei Speicherdiensten. Dahinter steht ein kanadischer Verein mit begrenzten finanziellen und personellen Kapazitäten.

Enthemmung bei den Tätern

Herbert Reul © NDR/ARD Foto: Screenshot
Lassen Ermittler künftig Aufnahmen sexuellen Missbrauchs öfter löschen? Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), stellt dies in Aussicht.

NRW-Innenminister Herbert Reul zeigte sich im Panorama-Interview von den Recherchen überrascht - und sich vorstellen kann, hier künftig einen stärkeren Fokus auf Löschungen zu legen: "Das ist eine ganz interessante und kluge Strategie, gar keine Frage", sagte der CDU-Politiker. "Verbrechen kann man nicht nur mit einem Schlag aufklären, sondern manchmal muss man einfach dranbleiben, nerven, stören, Unruhe verbreiten, es unattraktiv machen, es erschweren."

Die Zeit drängt, denn Löschen ist längst nicht mehr "nur" eine Frage von Rechten der Betroffenen. Die Dauer-Verfügbarkeit härtester Missbrauchsdarstellungen kann bei Pädosexuellen die Hemmschwelle senken, selbst kriminell tätig zu werden.

Aus Vernehmungen von Beschuldigten wisse man, dass die tagtägliche Präsenz im Forum die Täter regelrecht unter Druck gesetzt habe, neue Fotos und Videos zu produzieren, sagt Staatsanwältin Bussweiler. "Wir sehen in solchen Plattformen eine große Gefahr, dass sich solche Netzwerke radikalisieren und das da noch viel, viel schlimmerer Missbrauch an Kindern verübt wird."

Weitere Informationen

Lage der Nation - BKA lässt Bilder von Kindesmissbrauch im Netz

BKA lässt Bilder von Kindesmissbrauch im Netz, Corona-Lage mit Omikron, BVerfG zu Bundesnotbremse, neues Telekommunikationsgesetz extern

 

Weitere Informationen
Kollage aus vielen Kinderfotos © NDR /ARD Foto: Screenshot

Wie Pädokriminelle private Kinderfotos stehlen

Pädosexuelle bedienen sich massenhaft in sozialen Medien: Sie klauen auf Facebook oder Instagram Kinderfotos von privaten Profilen und laden sie auf sogenannten Kinderpornografie-Seiten hoch. mehr

Ein Junge sitzt zusammengekauert in einer Ecke. © picture-alliance/dpa Foto: Nicolas Armer

Sexuelle Gewalt gegen Kinder - wo bleibt die Hilfe?

Die jüngsten Zahlen zeigen, dass in der Corona-Krise sexualisierte Gewalt gegen Kinder deutlich zugenommen hat. mehr

Graphic Novel: Eine Frau steht an einem geöffneten Fenster und schaut traurig nach draußen. © NDR / ARD Foto: Screenshot

Fehlende Unterstützung: Opfer sexuellen Missbrauchs im Stich gelassen

Beim "Fonds sexueller Missbrauch" können Gelder für Therapien beantragt werden. Doch die Bearbeitung der Fälle dauert lang. mehr

Grafik: Hakenkreuz auf dem Handy © NDR

Hakenkreuze und Gewaltvideos: Was Kinder posten

Nazi-Symbole, Gewaltvideos, Kinderpornos: Immer häufiger teilen Kinder strafrechtlich relevante Inhalte übers Smartphone. mehr

Hände tippen auf Tastatur © NDR Foto: Screenshot

Auf den Spuren eines pädophilen Täters

Die Polizei sprengte einen Pädophilenring, zu dem auch Daniel V. aus Schleswig-Holstein gehörte. Er ist Wiederholungstäter. Wo liegen die Grenzen der Kontrollierbarkeit? mehr

Wencke Glomp vor dem ehemaligen Heim

Ehemalige Heimkinder: Missbrauch ohne Strafe

Ehemalige DDR-Heimkinder berichten von massivem sexuellem Missbrauch. Doch dafür wird niemand bestraft: Denn der Missbrauch ist längst verjährt. mehr

Kinderpornografie: Kampf gegen Windmühlen © NDR

Kinderpornografie: Kampf gegen Windmühlen

Manchmal müssen die Opfer über die Schulfahndung identifiziert werden. Denn während die Kinder und ihr Missbrauch zur Schau gestellt werden, bleiben die Täter im Verborgenen. mehr

Weitere Informationen

Kindesmissbrauch: Warum löscht die Polizei die Bilder nicht?

Der Panorama-Beitrag vom 2. Dezember 2021 als PDF-Dokument zum Download. Download (116 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 02.12.2021 | 22:00 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr