die nordstory - Die Schwentineflotte

Kapitäne gegen den Strom

Mittwoch, 02. November 2022, 15:00 bis 16:00 Uhr

Etwa zehn Menschen leben dauerhaft im Hafen von Stickenhörn an der Kieler Förde auf zum Teil recht alten und klapprigen Schiffen. Wer sie als "Aussteiger" betitelt, dem begegnen sie mit einem abweisenden Stirnrunzeln. Wer sie für Exoten hält, dem geben sie stillschweigend Recht.

Aber auch ein paar Dutzend Sympathisanten schwimmen in ihrem Kielwasser. Die bunte Armada trägt noch immer den Namen Schwentineflotte, obwohl sie schon lange nicht mehr am anderen Kieler Ufer an der Schwentineseite vor Anker liegt.

Die Idealisten und ihre Bootsflotte

Die Menschen hinter der Schwentineflotte sind öffentlichkeitsscheu, aber beileibe nicht auf den Mund gefallen. Tatsächlich fühlen sich viele wie Kapitäne. Sie steuern zumeist sehr gezielt ihre letzte Lebenshälfte an. Noch dazu haben sie Haus, Hof, Familie, Karriere, vor allem aber den Mainstream verlassen. Ohne dogmatisch zu sein, glauben viele Flottenbewohner, vom Boot aus ein besseres Leben zu führen. Fast alle entsagen dem Materialismus, dem Konkurrenzdenken oder dem Sozialneid.

Die Boote, für viele das einzige Hab und Gut, sind so unterschiedlich wie ihre Besitzer. Die meisten tragen Spuren einer bewegten Vergangenheit am Bootsrumpf, die Menschen in der Biografie. Reinhard zum Beispiel hat sich von den Verlockungen des Geldes freigesprochen. Gemeinsam mit seiner Frau Addi lebt er mittlerweile seit gut drei Jahrzehnten ausschließlich an Bord und verdient seinen Lebensunterhalt auf Flohmärkten.

Jeder hat seine eigene bewegte Vergangenheit

Oder Ben, der Wissenschaftler in der Flotte: Er kann durchaus auf ein etabliertes Landleben mit etwas Wohlstand zurückblicken. Das Leben aber lehrte ihn, Ballast abzuwerfen. Er bewohnt eine alte Schute, die er selbst umgebaut hat, und engagiert sich für Geflüchtete auf einem Gelände in der Nachbarschaft.

Flo ist einer der jüngsten Bewohner in der Schwentineflotte. Von Segeln hatte der bekennende Hippie, der im Handwerk auf der Karriereleiter war, keine Ahnung. Für seinen neuen Lebensweg kaufte er sich ein kleines Fahrtensegelschiff und bewohnt es nun mit seinem Hund.

Revoluzzer ist er nicht. Aber ein Querdenker. Doddel aus Kiel ist in der Hausbesetzer-Szene von damals gewachsen und hat sein Herz an alte Schiffe und gute Seemannschaft verloren. In diesem Jahr will er mit seiner Schwentineflotte zum 20. Jubiläum der bunten Armada ordentlich auf die Pauke hauen. Sein eigenes Boot bewohnt er nicht mehr dauerhaft. Manchmal genießt er heute als einer der älteren Bewohner – eine kurze Auszeit an Land. © NDR
Doddel aus Kiel hat sein Herz an alte Schiffe und gute Seemannschaft verloren. Sein eigenes Boot bewohnt er nicht mehr dauerhaft.

Einen Chef hat die Flotte auch: Doddel. In früheren Jahren war er Erzieher für auffällig gewordene Jugendliche. Ein weit gereister Seebär und Tischler. Von Autorität hält Doddel nicht viel, aber Typen wie er halten die schrägen Vögel vom Kieler Hafen auf ganz natürliche Art und Weise zusammen. Er ist ein Flottenmann der ersten Stunde. Damals, als in Kiel die Hausbesetzerszene rebellierte und Freunde alter Schiffe einen Liegeplatz fürs Leben suchten, war er dabei.

Hafen mit legalem Wohnrecht

Etwa zehn Dauer-Bewohner, etwa 40 zum Teil klapprige, alte Schiffe: Das ist die Schwentineflotte von Kiel. Vor 20 Jahren noch lagen die Boote in der Nähe des Flusses Schwentine, auf der anderen Seite der Kieler Förde. Mit dem Zuzug des Meeresforschungs-Instituts Geomar mussten die Bewohner weichen. Was folgte, war ein erbitterter Existenzkampf mit der Stadt Kiel. Die Flotte siegte und wurde der erste Hafen in Deutschland mit legalem Dauerwohnrecht. © NDR
Etwa zehn Dauer-Bewohner, etwa 40 zum Teil klapprige, alte Schiffe: Das ist die Schwentineflotte von Kiel.

Die Schwentineflotte konnte bereits 20-jähriges Jubiläum feiern. Und das mit einer gehörigen Portion Stolz. Denn in ihren Anfangszeiten war die Crew rund um die altersschwachen Boote in der Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins gar nicht gern gesehen. Die Schwentineflotte ließ sich in ihrem Kampf um Daseinsberechtigung nicht unterkriegen, eroberte die Herzen ihrer ehemaligen, behördlichen Gegner und verpasste sich ein besonderes Prädikat: Sie wurde der erste Hafen in Deutschland mit legalem Wohnrecht.

Für "die nordstory" öffneten die kauzigen Kapitäne ein paar Luken und Kajüten mit ihren persönlichen Lebenskapiteln. Erzählt wird deren Geschichte von Schauspieler Axel Prahl.

Autor/in
Andrea Jedich
Marc Schulz
Hauke Wendt
Produktionsleiter/in
Angela Hennemann
Redaktion
Katrin Glenz
Leitung der Sendung
Norbert Lorentzen
Sprecher/in
Axel Prahl

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