Auslandspraktikum in St. Petersburg

von David Diwiak

Es ist nun schon fast ein Jahr her, als ich mit frischem Reisepass und Visum frühmorgens am Hamburger Flughafen stand. Ich habe einen großen Koffer bei mir, darin Klamotten für drei Wochen. Auf dem Rücken einen 10 Kilogramm schweren Rucksack, gefüllt mit Metall, Glas und analogem Fotomaterial. Nach Russland soll es gehen - genauer gesagt - St. Petersburg.

Spannung vor dem Abflug

Ich warte vor dem Check-In noch auf die anderen sieben Teilnehmer an dem Projekt "Auszubildende nach Russland", initiiert durch die Agentur "Arbeit und Leben Hamburg". Wir haben uns schon flüchtig kennengelernt, beim "interkulturellen Vorbereitungsseminar". Die anderen scheinen noch aufgeregter als ich selbst zu sein. Was wird uns dort erwarten? Was für Praktikumsplätze bekommen wir? Auf was für Leute werden wir dort treffen? Immerhin ist es ja schon Winter, und St. Petersburg soll unglaublich kalt sein. Sagt man zumindest so.

Eine Stadt mit wunderschönen Fassaden

Nach einem rund dreistündigen Flug nimmt uns Julia in Empfang. Sie kommt von der empfangenden Einrichtung und wird uns bei unserem Praktikum betreuen. Der Flughafen liegt ziemlich weit außerhalb der Stadt, sodass wir mit einem Kleinbus gefahren werden. Wir fahren direkt ins wunderschöne und anmutige Zentrum der 5-Millionen-Stadt, wir werden dort für drei Wochen in einem Hostel wohnen.

Schon beim Eintreten in den Innenhof bemerke ich, dass vieles der Stadt nur Fassade ist. Wir ziehen unsere Koffer durch den Bauschlamm des völlig heruntergekommenen Innenhofs, bis wir im Treppenhaus dann über Kabel steigen und unter Leitern der Bauarbeiter klettern, und letztendlich von dem ganzen Putzstaub völlig weiß gepudert oben an der Rezeption ankommen. Die Rezeptionistin und gleichzeitig Besitzerin des Hostels spricht kein Wort Englisch, dafür keift sie uns um so lieber auf Russisch an. Zum Glück ist Julia ja noch kurz da. Sie klärt für uns den nötigen Papierkram und wir müssen fast nichts machen. Super, das kann ich.

Drei Mann auf einer Bude

Ich teile mir mein Zimmer mit zwei anderen Jungs, Auszubildende Schiffahrtskaufleute. Drei Betten und ein Tisch auf acht Quadratmetern. Man muss sich also schon ganz gut riechen können, so für drei Wochen auf so engem Raum. Zum Glück verstehe ich mich ziemlich gut mit den beiden, so dass wir nach einem kleinen nächtlichen Stadtrundgang mit Julia noch auf eigene Faust was unternehmen. Wir treffen uns mit einer Couchsurferin, die uns gleich in eine Bar mitnimmt. Scheint ein Geheimtipp zu sein, denn wir sind die einzigen Ausländer hier. Wir sind deutlich geschafft und leicht eingeschüchtert, von den ganzen Informationen und den vielen neuen Eindrücken. Ein Blick auf die Karte und die Preisliste macht klar: Wir müssen erst einmal möglichst viel durchprobieren! Keine gute Idee…

Sprachkurs mit Kater

Nächster Morgen. Die ganze Woche steht ein "soziokulturelles Programm" auf dem Plan. Dazu jeden Morgen ein Sprachkurs. Ich kann mich in meinem ganzen Leben nicht erinnern, jemals so verkatert gewesen zu sein. In Russland gibt es in den Bars auch die sogenannte Hausmarke, und das merkt man. Vor allem am Morgen danach. Es ist kalt, sehr kalt. Mein Zustand macht es mir nicht einfacher, meinen Weg geschickt durch die großen und hektischen Menschenmengen bis hin zur Petrikirche zu finden, wo unser Russischkurs stattfindet. Ich merke, ich bin heute nicht besonders aufnahmefähig. Ich kann zum Glück schon ein bisschen Russisch, für heute also nicht so schlimm. Während die anderen sich mit dem kyrillischen Alphabet quälen, bin ich überwiegend damit beschäftigt, meinen Magen zu beruhigen und nicht einzuschlafen.

Soziokulturelle Erfahrungen

Das Programm für die Woche ist vollgepackt mit touristischen Veranstaltungen. So versuche ich möglichst, nur die notwendigen und wichtigen Dinge mitzunehmen, um auch ein bisschen Zeit für mich selbst zu haben. Das Zusammenleben in dem kleinen Zimmer funktioniert ziemlich gut. Wir erwischen uns des öfteren, wie wir noch an dem einen oder anderen Abend einen nächtlichen Spaziergang unternehmen. Egal wie kaputt und fertig wir abends auch sind, es zieht uns immer wieder raus. Auch, weil wir wissen, dass es uns dann besser geht. Dieses enge Kämmerchen mit der Blümchentapete, der Bettwäsche mit Leopardenmuster und nicht zu vergessen dem Mief von drei Jungs ist dann auf Dauer doch ein wenig deprimierend.

Meine ersten Eindrücke von der Stadt? Hektisch, schnell, einschüchternd, auf eine Art und Weise prunkvoll und elegant. Man spürt, dass hier nicht alles echt ist. Während am Tage die zahlreichen aufwändig restaurierten Paläste, Kathedralen und Kirchen prächtig den Reichtum längst vergangener Zeiten repräsentieren, finden sich nachts hingegen vor allem arme Frauen, die auf ihren Pferden in den Straßen betteln. Sowieso, Obdachlose gibt es hier nicht, zumindest nicht bei Tageslicht. Und Menschen mit Behinderung schon gar nicht. Alles, was nicht im Zentrum gesehen werden will, wird raus an den Stadtrand abgeschoben. Ich kann nur erahnen, wie hier mit Diskriminierung von Minderheiten umgegangen wird.

Kulinarisch bleibe ich als Vegetarier ein wenig auf der Strecke. Viele russische Spezialitäten sind mit Fleisch zubereitet, sogar der bekannteste russische Salat Olivier. Wenn ich im Restaurant explizit nach einem vegetarischen Gericht frage, werde ich nur verständnislos und fragend angeschaut.

Eigentlich fotografiere ich sehr viel und gerne, allerdings fällt mir das in der ersten Zeit sehr schwer. Ständig ist man von der eher trägeren Gruppendynamik gebremst, dazu kommt der sehr begrenzte Zeitraum, in dem ausreichend Tageslicht vorhanden ist. Ich fotografiere nämlich ausschließlich analog, also einfach ISO hochschrauben ist nicht. Die Sonne geht allmählich um 10 Uhr auf und verabschiedet sich bereits wieder um 4 Uhr nachmittags. Frustrierend.

Das Praktikum bei Juce TV: Jung, bunt, schräg

Am Ende der ersten Woche erfahren wir endlich, in welchen Betrieben wir unser Praktikum durchführen werden. Mir wurde Juce TV vermittelt, ein junger Musikfernsehkanal. Ein flüchtiger Blick auf deren Internetpräsenz offenbart mir bereits: Jung, bunt, schräg.

Montagmorgens mache ich mich dann also auf zum Fernsehsender, ein bisschen weiter außerhalb vom Zentrum. Die Metrostation Admiralteyskaya ist nur einen Katzensprung vom Hostel entfernt, dort angekommen geht es erst einmal in die Tiefe. Bestimmt 5 Minuten stehe einfach nur auf der Rolltreppe, die mich in ungewohnt raschem Tempo unter das aufwändige Kanalsystem der Innenstadt zu den Gleisen befördert. Einmal umsteigen, noch einmal die Rolltreppe nach unten. Wie tief mag ich mich wohl nun unter der Erdoberfläche befinden? Kurze Zeit später komme ich an. Nach der erneuten Rolltreppenfahrt gen Oberfläche, die gefühlt länger dauert als die gesamte Bahnfahrt, suche ich nun die angegebene Adresse. Ebenfalls diese Hürde der Orientierungslosigkeit gemeistert, kommen mir auch schon zwei junge Typen, vollgepackt mit Taschen und Stativen entgegen: "Du bist David?" "Ja." "Okay, dann lass uns los!"

Musikvideodreh am Finnischen Meerbusen

Völlig perplex quetsche ich mich in den heruntergerockten Honda, der mit fünf Leuten vollbesetzt ist. Eingepfercht zwischen Jacken und Equipment versuche ich ein Gespräch aufzubauen und herauszufinden, was hier eigentlich passiert. Meine beiden Kollegen heißen Ilia und Dima, die neben der Arbeit für den Sender Juce TV die Produktionsfirma Juce Production gegründet und sich damit seit ein paar Monaten selbstständig gemacht haben. Die beiden sprechen bis auf ein paar Worte kein Englisch, sodass ich nur erahnen kann, was wir heute machen. Ein Musikvideo soll es werden, mit im Auto sitzt der Musiker und Protagonist Vladimir. Wir fahren weit raus, in einen Außenbezirk am Finnischen Meerbusen. Dort ist ein riesiger zugefrorener See mit angrenzendem Waldgebiet, wo wir unseren ersten Halt machen. Was für ein schöner Ort. Ich fühle mich frei.

Unser zweiter Halt ist direkt am Meer. Der eiskalte Meerwind pfeift mir um die Ohren, aber das ist mir egal. Während Ilia, Dima und Vladimir am Strand drehen, laufe ich auf den riesigen zersplitterten Eisplatten Richtung offene See. Ich bin überwältigt von der Schönheit der eisigen Weite und der gefühlten Freiheit. Dann geben die Batterien in meiner Kamera den Geist auf. Also zurück Richtung Festland.

Die drei haben mittlerweile ein altes Holzboot gefunden, das sofort als Requisit im Film eingesetzt wird. Noch verstehe ich die Story hinter dem Musikvideo nicht. Vorher läuft Vladimir mit einer alten Karte und einer Spitzhacke durch die Gegend, wühlt den Boden hier und da ein bisschen auf. Jetzt ein kleines Licht, das er unter dem Boot am Strand findet, angeblich damit die Welt retten kann, und daraufhin entgeistert versucht das Boot aufs Meer rauszuschieben. Naja, okay. Erst als ich später das fertige Video sehe und damit den Song zum ersten Mal höre, verstehe ich, dass Vladimir gegen Krieg und Völkerhass singt. Ich für meinen Teil könnte nach meinem ersten Tag nicht glücklicher sein und schlafe auf der Rückfahrt mit einem Grinsen auf der Rückbank ein.

Alltag im Büro

Der Rest der Woche sieht weniger spektakulär aus. Ich verbringe die meiste Zeit mit Ilia und Dima in deren kleinen Büro, eine Straße vom Fernsehsender weiter.

Dort lerne ich auch Arina kennen, eine Moderatorin des Senders. Sie zeigt mir das kleine Studio, in dem alle Beiträge des Senders produziert werden. Mir war ja schon bewusst, wie üppig der NDR ausgestattet ist, aber hier werden mir noch einmal ganz andere Verhältnisse aufgezeigt. Auch in der kleinen Produktionsfirma sieht es nicht anders aus, es gibt zwei Kameras: Eine Blackmagic und eine DSLR. Dazu kommt ein Schnittrechner, der für das 4K-Material der Blackmagic nicht genügend Speicher bereit hält. Zum Glück hatte ich mein Macbook dabei und kann damit aushelfen. Kleine Dreharbeiten für Beiträge und deren Schnitt werden mich die nächsten Tage beschäftigen.

Immer wenn wir unterwegs sind, betreiben die drei dermaßen viel Schabernack, dass es mir schon fast unangenehm wird. Der russische Humor ist eben doch noch eine ganze Ecke anders.

Fast wehmütige Rückreise

Mit den neuen Bekanntschaften, den lustigen Zwischenfällen und dem Abenteuer am Finnischen Meerbusen im Gedächtnis trete ich schon fast wehmütig meine Rückreise an. Natürlich bin ich froh, nach drei Wochen mit zwei anderen auf engstem Raum nach Hause zu kommen und wieder ein bisschen mehr Platz und Freiraum zu haben. Aber gerade jetzt, wo es draußen wieder kälter wird, sehne ich mich tatsächlich nach der bedrückenden Kälte, den schmierigen dreckigen Straßen, dem ranzigen Bier und der lustigen Gesellschaft, und natürlich nach der mit der Dunkelheit einhergehenden Melancholie des russischen Winters. Ich sehne mich nach diesen unangenehmen und herausfordernden Situationen, die mir im Nachhinein das Gefühl geben, eine Erfahrung reicher geworden zu sein. Dazu habe ich mit meinen russischen Kollegen zwei neue Freunde gefunden, die ich hoffentlich schon bald wieder treffen werde.

Die Stadt hat mich mit ihren Gegensätzlichkeiten in ihren Bann gezogen und die Idee des nächsten Trips dorthin lässt mich seitdem nicht mehr los.