Blick in eine Sportumkleidekabine © Screenshot

Missbrauch im Sport: Unabhängige Anlaufstelle für Opfer gefordert

Stand: 03.10.2022 14:55 Uhr

Eine Studie belegt, wie verbreitet sexualisierte Gewalt im Sport ist. Ein Grund mehr für eine unabhängige Instanz, die Betroffenen hilft, sie schützt und auch sanktionieren darf, meint Fechterin Léa Krüger aus dem Vorstand des Vereins "Athleten Deutschland".

von Andreas Bellinger

Aufarbeitung Fehlanzeige - es ist ziemlich beklemmend, was eine jüngst vorgelegte Studie der unabhängigen Aufarbeitungskommission über sexualisierte Gewalt im Sport aufdeckt. Die wenigsten Fälle werden demnach untersucht, die Opfer alleingelassen. In einem System der Abhängigkeit und des Vertuschens sei es den Betroffenen häufig sogar unmöglich gewesen, ihre Not überhaupt anzusprechen, sagt Bettina Rulofs, leitende Autorin der Studie, im NDR Sportclub.

Die Sportsoziologin hat mit ihrem Team von der Sporthochschule Köln die Aussagen von 72 betroffenen Sportlerinnen und Sportlern ausgewertet und festgestellt: "Wenn es angesprochen wurde, wurde es sehr oft von den Verbandsakteuren vertuscht, verdeckt, verdrängt."

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Vereine fürchten Imageschaden

Dabei sollten doch genau diese Sportvereine und -verbände für Aufklärung sorgen. Doch zahlreiche Fälle zeigen, dass das aus Angst vor einem Imageschaden nicht geschieht; dass von den Verantwortlichen wohl auch drohende finanzielle Einbußen gegen Opferschutz abgewogen werden. "Wegen dieser Struktur brauchen wir eine unabhängige Anlaufstelle, wo Athletinnen und Athleten sich hinwenden können, wo ihnen geglaubt wird und wo sie Hilfe bekommen", fordert Léa Krüger aus dem Vorstand der "Athleten Deutschland".

Safe Sport - Anlaufstelle in der Not

Der eingetragene Verein macht sich für eine solche Instanz schon länger stark, wie die WM-Teilnehmerin im Säbelfechten erklärt. Eine neutrale Einrichtung, die ohne Beschränkungen und Begehrlichkeiten den Sumpf trockenlegen soll. Eine Anlaufstelle für alle in Not - Athleten, aber auch Trainer, die zunehmend verunsichert wirken. "Eine Institution, die auch intervenieren und sanktionieren kann, die kontrolliert und die notwendigen finanziellen Mittel hat. Und vor allem eine neutrale und schonungslose Aufarbeitung möglich macht", sagt Krüger.

Das Konzept für ein unabhängiges Zentrum für Safe Sport hat der Verein im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht, erstmals ist eine solche Einrichtung auch im Koalitionsvertrag verankert.

DOSB: Kann uns nicht kalt lassen

Wie dringlich es ist, die Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten, zeigt das Martyrium einer einstmals hoffnungsvollen jungen Biathletin. Die Übergriffe ihres Trainers begannen für Nora scheinbar harmlos mit Streicheln - gipfelten schließlich in wiederkehrenden sexuellen Übergriffen. "Ich hatte mir vorgenommen zu sagen, ich will das nicht mehr. Und er stand dann halt vor mir, fing wieder an, mich zu küssen. Ich habe versucht, ihn wegzudrücken. Er hat einfach weitergemacht, hat mich ausgezogen, mich auf mein Bett gelegt und mich halt missbraucht."

Kein Einzelfall, wie die aktuelle Studie belegt. "Das kann uns natürlich nicht kalt lassen, tut es auch nicht; im Gegenteil, es erschüttert uns sehr", sagt Christina Gassner aus dem Vorstand des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die auch Geschäftsführerin der Deutschen Sportjugend ist. "Wir müssen die Ergebnisse der Studie jetzt sorgfältig auswerten, gleichzeitig aber auch uns selbst hinterfragen: Wo stehen wir eigentlich wirklich ganz konkret in diesem Themenfeld?"

Trainer-Athleten-Verhältnis - fatale Abhängigkeiten

Was in Noras Sportinternat vor sich ging, sei ein offenes Geheimnis gewesen, heißt es. Gnadenlos nutzte der Trainer Noras Abhängigkeit aus, die natürlich wusste, dass ihre Karriere auf dem Spiel stand. Eine unabhängige Stelle, an die sie sich hätte wenden, die sogar hätte einschreiten und Strafen verhängen können, hätte das Schlimmste vielleicht verhindert.

2008 wurde Noras Trainer wegen 38-fachen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Nach Recherchen des NDR und der "Süddeutschen Zeitung" soll er heute wieder jugendliche Mädchen trainieren. Auf Anfrage verweist er auf sein Recht auf Resozialisierung. Hinweise darauf, dass er wieder straffällig geworden ist, gibt es nicht.

Vereine müssen Führungszeugnisse nicht abfragen

Aber sollen Jugendliche nicht geschützt werden vor verurteilten Sexualtätern? Straftaten stehen deshalb im Führungszeugnis - 20 Jahre lang. Die Vereine müssen es aber nicht abfragen; der DOSB spricht lediglich eine entsprechende Empfehlung aus.

"Man braucht einen langen Atem, um alle Konzepte auf alle 90.000 Sportvereine in Deutschland auszurollen", sagt Gassner über die nur langsam vorankommende Aufarbeitung und Aufklärung. Leidtragende bleiben derweil Opfer wie Nora: "Es macht mich traurig und wütend gleichzeitig, dass der Trainer mir das mein ganzes Leben mit auf den Weg gibt", sagt sie.

Das NDR Ressort Investigation recherchiert zu Sexismus, MeToo und sexualisierter Gewalt im Sport. Sie erreichen die Redaktion unter investigation@ndr.de

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 02.10.2022 | 22:50 Uhr

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