Die Spieler von Hannover 96 bejubeln den Sieg im Endspiel 1954 gegen den 1. FC Kaiserslautern. © picture-alliance / dpa

1954: Als Hannovers "Elf der Namenlosen" deutscher Meister wurde

Stand: 15.03.2024 10:36 Uhr

Hannover 96 geht 1954 als klarer Außenseiter ins Finale um die deutsche Fußball-Meisterschaft. Doch die "Roten" sorgen gegen den 1. FC Kaiserslautern für eine der größten Überraschungen der Endspielgeschichte.

von Sebastian Ragoß

Als Erster wagt Verteidiger Hannes Kirk das eigentlich Undenkbare auszusprechen: "Fritz, ihr seid die längste Zeit deutscher Meister gewesen." Hannover 96 führt im Finale 1954 gegen den 1. FC Kaiserslautern um Kapitän Fritz Walter mit 3:1 und ist noch eine Viertelstunde von der großen Sensation entfernt. "Das weiß ich schon lange", entgegnet der frustrierte FCK-Kapitän.

5:1 steht es nach 90 Minuten für die Niedersachsen, der vierthöchste Sieg der Endspielgeschichte. "Elf der Namenlosen" wurde 96 genannt, da kein Spieler zum Aufgebot der deutschen Nationalmannschaft gehörte.

Die Dominanz des HSV gebrochen

Doch Trainer Helmut Kronsbein hatte eine eingespielte Mannschaft geformt, die in der Saison 1953/1954 zum ersten und einzigen Mal die Dominanz des Hamburger SV in der Oberliga Nord brechen konnte.

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Helmut Kronsbein, Trainer von Hannover 96, im Jahr 1964 © imago/Horstmüller

Helmut Kronsbein - Alleinherrscher von Hannover 96

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Der junge Hans Krämer im Tor, die Verteidiger Kirk und Helmut Geruschke, die Läuferreihe um Heinz Günther Bothe sowie der von Heinz Wewetzer und Hans Tkotz angeführte Sturm hatten ihre ganze Klasse schon in der Oberliga-Saison bewiesen. Mit elf Siegen in Folge startete 96 in die Serie und sicherte sich mit sieben Zählern Vorsprung auf den FC St. Pauli die Nordmeisterschaft.

Fast 80.000 Zuschauer im Volksparkstadion

In den Endrundenspielen gewann 96 mit 1:0 gegen den Berliner SV und 3:1 gegen den VfB Stuttgart. Hannover stand im Finale gegen den 1. FC Kaiserslautern. Fast 80.000 Zuschauer strömten am 23. Mai 1954 ins Hamburger Volksparkstadion, und selbst die Mehrheit der 20.000 Anhänger von Hannover 96 glaubte, dass diese Begegnung nur einen Sieger haben könne: den 1. FC Kaiserslautern.

Die Pfälzer, bereits 1951 und 1953 Meister, waren die dominierende Fußball-Mannschaft der jungen Bundesrepublik, hatten fünf aktuelle Nationalspieler in ihren Reihen und galten deshalb auch in Hamburg als haushoher Favorit.

Alle 30 Experten tippen auf Kaiserslautern

Vor der Begegnung gaben 30 Experten einen Tipp ab, 30 Mal wurde Kaiserslautern als Sieger genannt. Noch nicht verblasst waren allerdings in Hannover die Erinnerungen an den ersten Meistertitel 1938. Auch damals waren die Niedersachsen klarer Außenseiter, besiegten aber das großartige Schalke 04 von Fritz Szepan und Ernst Kuzorra mit 4:3 nach Verlängerung im Wiederholungsspiel.

Wende kurz vor dem Seitenwechsel 

96-Coach Kronsbein hat vor dem Finale jedoch Verletzungssorgen. Außenläufer Willi Hundertmark kann nicht spielen. Wer soll Fritz Walter, den Superstar des deutschen Fußballs, bewachen? Der Trainer bringt den unerfahrenen Rolf Gehrcke für Hundertmark. Gemeinsam mit Werner Müller schaltet der 21-Jährige Walter aus.

"Wir lebten von unserem Team und von der Freundschaft." Rolf Gehrcke

Bis kurz vor der Pause nimmt das Spiel jedoch den erwarteten Verlauf, Kaiserslautern führt mit 1:0. Tkotz' Ausgleich in der 45. Minute gibt der Partie die entscheidende Wendung.

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Endspiel 1954: Hannovers Mittelstürmer Hans Tkotz (M.) im Zweikampf mit Kaiserslauterns Abwehrspieler Werner Kohlmeyer (r.) © picture-alliance / dpa

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Der Außenseiter wird immer stärker, spielt in der zweiten Hälfte seine körperliche Überlegenheit aus und hat auch das Glück auf seiner Seite. Werner Kohlmeyers Eigentor (47.) bricht den Widerstand der erschöpften Pfälzer. "Wir waren regelrecht ausgelaugt. Unsere Verfassung war trostlos", beschrieb Fritz Walter nach dem Finale den Zustand seines Teams.

Bundestrainer Herberger in Erklärungsnot 

Der überraschende Meistertitel für Hannover brachte auch Bundestrainer Sepp Herberger in Erklärungsnot. Am Endspieltag hatte der "Chef" verlauten lassen, sein Team habe bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz eine "reelle Chance", gegen Turnierfavorit Ungarn zu gewinnen. Aber wie sollte dies mit einer Elf gelingen, die von den gedemütigten und augenscheinlich müden FCK-Spielern angeführt wird?

In der Öffentlichkeit wurde der Ruf nach personellen Konsequenzen laut. Doch Herberger ließ sich in seinen Entscheidungen nicht beeinflussen und nominierte die Walter-Brüder, Horst Eckel, Werner Liebrich und Kohlmeyer. Akteure des neuen Meisters standen hingegen nicht im Kader. Sechs Wochen später gab es niemanden mehr, der den Bundestrainer kritisierte. Mit den fünf Spielern aus Kaiserslautern hatte Deutschland Ungarn mit 3:2 im WM-Finale besiegt.

200.000 Fans beim Empfang in Hannover

In Hannover löste der Überraschungssieg eine nie zuvor erlebte Fußball-Begeisterung aus. Rund 200.000 Fans empfingen den neuen deutschen Meister am 24. Mai am Hauptbahnhof. Den großen Erfolg konnten die Niedersachsen gleichwohl nicht wiederholen. Der neuformierte Hamburger SV um Uwe Seeler und Klaus Stürmer gewann bis zur Auflösung der Oberligen in jedem Jahr die norddeutsche Meisterschaft.

Hannover verpasste sogar die Qualifikation für die neue Bundesliga und war 1963 nur noch zweitklassig. Bis zum Jahr 1992 sollte es dauern, ehe Hannover 96 mit dem DFB-Pokal wieder einen Titel gewann. Im Elfmeterschießen besiegten die "Roten" Borussia Mönchengladbach in Berlin. An einem 23. Mai. Als Zweitligist und damit krasser Außenseiter.

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Werder-Torwart Frank Rost (Mitte) mit der Meisterschale © Witters

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Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 23.05.2014 | 10:25 Uhr

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