Stand: 20.11.2013 16:17 Uhr

Der Tschechen-Hafen in Hamburg verfällt

Es ist ruhig am Rande des trubeligen Hamburger Hafens. Sonntagsruhe sozusagen, auch mitten in der Woche. Kaum jemand verirrt sich in den Tschechen-Hafen nahe den Elbbrücken. Es ist ein vergessener Ort. Die Schranke an der Zufahrt hat längst ihren Schrecken verloren. Es gibt auch keinen Wächter, der etwas gegen einen Bummel über das asphaltierte Gelände haben könnte. Seit 84 Jahren hat hier der tschechische Staat sein eigenes Reich im Hamburger Hafen. Die goldene Ära in den 70er- und 80er-Jahren ist nur noch zu erahnen. Schilder mit tschechischen Worten verblassen, Anleger vergammeln, die Wasserbecken sind verwaist.

"Es war eine schöne Zeit"

Ex-Mitarbeiter Harald Hintz im Saalehafen  Foto: Marc-Oliver Rehrmann
Der frühere Hafenarbeiter Harald Hintz kennt im Tschechen-Hafen jede Ecke.

Harald Hintz ist einer, der früher im Tschechen-Hafen gearbeitet hat. 16 Jahre lang. Von 1986 bis 2002. "Es war eine schöne Zeit", sagt der Rentner heute. Einst lagen hier Tag für Tag Dutzende tschechische Binnenschiffe. Das Klubschiff "Praha" verwöhnte die Arbeiter mit böhmischer Küche, ein Werkstattschiff ermöglichte Reparaturen auf dem Wasser. Hintz war als technischer Inspektor angestellt - als einer von mehr als 100 deutschen Arbeitern im Tschechen-Hafen. "Im Grunde genommen bin ich das Mädchen für alles gewesen", erzählt Hintz, der mit einer Tschechin verheiratet ist.

Auf 99 Jahre verpachtet

Der Tschechen-Hafen im Versailler Vertrag

Im Artikel 363 des Versailler Vertrages heißt es: "In den Häfen Hamburg und Stettin verpachtet Deutschland der Tschecho-Slowakei für einen Zeitraum von 99 Jahren Landstücke, die (...) dem unmittelbaren Durchgangsverkehr der Waren von oder nach diesem Staate dienen sollen."

Der Tschechen-Hafen nahe den Hamburger Elbbrücken hat eine lange Geschichte vorzuweisen. Sie geht zurück auf den Ersten Weltkrieg. Das Deutsche Reich musste nach seiner Niederlage den Tschechen einen zollfreien Zugang zum Meer ermöglichen. Dies ist im Versailler Vertrag aus dem Jahr 1919 festgeschrieben. Ab 1922 laufen die Verhandlungen darüber, welche Grundstücke die Tschechen im Hamburger Hafen erhalten sollen. Die Hansestadt bietet zunächst den östlichen Teil des Spreehafens an. Die Tschechen sind nicht einverstanden. Erst im November 1929 unterzeichnen beide Seiten den Pachtvertrag. Die Tschechen erhalten die Ufer-Grundstücke am Moldau- und am Saalehafen. Nutzfläche: 28.540 Quadratmeter. Pachtdauer: 99 Jahre.

Jobs im "Tschechen-Hafen" waren begehrt

Die Tschechen nutzen den Hamburger Hafen schnell als Drehscheibe für ihre Waren. Die Frachtschiffe bringen beispielsweise Kaffee, Kakao, Futtermittel, Stückgut und Getreide in die Heimat. Exportiert werden später häufig Industriegüter. In den 1980er-Jahren verfügt die Tschechoslowakische Elbe-Schiffahrtsgesellschaft (ČSPLO) über mehr als 600 Binnenschiffe und Transportschuten. Bei den Deutschen ist ein Job in Moldau- und Saalehafen begehrt. Die Tschechen bezahlen die Deutschen besser als die eigenen Landsleute. "Die Deutschen haben das Acht- bis Zehnfache verdient", weiß Hintz. "Ein tschechischer Arbeiter bekam auf dem Werkstattschiff nur einen Stundenlohn von drei D-Mark. Dafür hat er aber auch Unterkunft und Essen frei gehabt." Und das Geld hätten die Tschechen auf dem Schwarzmarkt zu einem guten Kurs umtauschen können, berichtet Hintz.

Auf dem Klubschiff "Praha" kehren deutsche und tschechische Hafenarbeiter ein. "Die 0,75 Liter-Flaschen mit tschechischem Bier hießen bei uns 'Elefantenspritze'", erinnert sich Hintz. Und wenn es ein Fußballturnier der Hafenfirmen gab, machten auch die Tschechen mit.

Nur linientreue Kommunisten

Zur Zeit des Kalten Krieges dürfen auf tschechischer Seite nur linientreue Kommunisten in Hamburg arbeiten. "Es kam nicht jeder her", sagt Hintz. Die Männer hätten nur eine Arbeitsgenehmigung für ein halbes Jahr erhalten. "Die Genehmigung konnte aber verlängert werden, wenn sich jemand als tüchtiger Arbeiter erwiesen hatte", erzählt Hintz. Die einfachen Arbeiter durften nicht mit Frau und Kinder nach Hamburg kommen. "Es wäre ja auch gar kein Platz für die Familien da gewesen." Oberstes Gebot für alle Tschechen: Nur nicht auffällig werden, damit sie nicht gleich zurückgeschickt werden. Es halten sich bis heute Gerüchte, dass der tschechische Geheimdienst im Moldau- und Saalehafen aktiv war.

Das Ende kommt mit der Wende

Der Niedergang des Hafengeländes beginnt mit der politischen Wende im Ostblock Ende der 1980er-Jahre. Die staatliche Reederei wird privatisiert, die meisten Schiffe werden abgegeben. Für Hintz beginnt eine bittere Zeit. "Es wurde nach und nach alles verkauft." Es bleiben nur 30 Schiffe. Die Situation ist auf Jahre hinaus unübersichtlich. Hintz spricht von Betrügereien und beklagt, dass sich viele Tschechen damals bereichert hätten. Und den Kommunisten will auch niemand nahegestanden haben. "Das waren fast alles politische Wendehälse", sagt Hintz. Nur sein Chef habe zu seiner Überzeugung gestanden.

In den 90er-Jahren lohnt sich die Binnenschifffahrt nicht mehr. Längst können die Waren schneller und günstiger per Lastwagen transportiert werden. Viele tschechische Firmen setzen zudem auf die Bahn. 2001 meldet Europas einstmals drittgrößte Binnenschiffsreederei ČSPLO schließlich Konkurs an. Seitdem liegt das Gelände im Hamburger Hafen im Dornröschenschlaf.

Dieses Thema im Programm:

NDR//Aktuell | 18.11.2002 | 21:45 Uhr

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