Stand: 08.10.2015 15:00 Uhr

Antibiotika: Das Edel-Placebo der Ärzte

Niedergelassene Ärzte verschreiben in Deutschland 600 Tonnen Antibiotika im Jahr. Das ist mehr als doppelt so viel, wie die Krankenhäuser - mit steigender Tendenz. 80 Prozent der Antibiotika bei niedergelassenen Ärzten werden bei HNO-Infekten verordnet. Und gerade da sind sie fast immer sinnlos, da diese in der Regel (zu 90 Prozent) nicht von Bakterien, sondern von Viren ausgelöst werden und dagegen helfen Antibiotika nicht.

Viral oder bakteriell? Kaum Überprüfung der Art des Infekts

Nur in wenigen deutschen Praxen wird aber bisher überprüft, ob ein Patient einen bakteriellen oder einen viralen Infekt hat. Eine genaue Diagnose wäre mit weiteren Kosten und zusätzlichem zeitlichen Aufwand für sie verbunden. Zudem lassen sich die Ärzte oft auch von ihren Patienten unter Druck setzen: "Sie wollen schnell gesund werden und haben die irrige Vorstellung, dass das mit einem Antibiotikum schneller geht", erklärt die Hamburger Hals-Nasen-Ohren-Ärztin Rosemarie Neumann. Zudem scheint auch die Bequemlichkeit der Ärzte eine Rolle zu spielen: "Für uns ist es einfacher den Rezeptblock zu nehmen", erklärt die Fachärztin den Mechanismus. "Man muss dem Patienten sonst Vieles erklären. Etwa, wie er sich bei einem Virusinfekt verhalten soll." Kritische Mediziner nennen Antibiotika deshalb bereits das "Edel-Placebo".

Zu viele Breitband-Antibiotika sorgen für Resistenzen

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Jede Antibiotika-Gabe kann dazu führen, dass Bakterien gegen dieses Antibiotikum widerstandfähig - also resistent werden. In deutschen Arztpraxen werden reichlich Breitband-Antibiotika verordnet und keine auf spezielle Erreger abgestimmten Präparate. Die heute schon besorgniserregende Zahl immer neuer multiresistenter Erreger ist auch darauf zurückzuführen. Denn Breitbandantibiotika wirken eben nicht nur gegen einen Erreger, sondern auch gegen andere, die aber gar keine Symptome ausgelöst haben und führen deshalb zu immer mehr Resistenzen. Und dadurch können die Bakterien resistent gegen eine Vielzahl verschiedener Wirkstoffe werden.

Schnelltests: Unterscheidung von bakteriellen und viralen Infektionen

Dennoch ist es angesichts des fortschreitenden Wirkungsverlustes von Antibiotika dringend erforderlich, sie so sparsam und gezielt wie möglich einzusetzen. Sogenannte Schnelltests helfen dabei, bakterielle von viralen Infektionen zu unterscheiden. Mit ihrer Hilfe wissen Ärzte schon nach wenigen Minuten, ob sie ein Antibiotikum verschreiben müssen oder nicht. Je nach Test brauchen die Ärzte dafür einen Tropfen Blut oder sie nehmen einen Abstrich aus Nase und Rachen.

Der CRP-Schnelltest ist der bekannteste. Er funktioniert wie ein Blutzuckertest und zeigt an, ob im Körper bakteriell bedingte Entzündungswerte vorhanden sind. Sind sie erhöht, kann das durchaus verschiedene Ursachen haben. Aber wenn keine Entzündungswerte nachweisbar sind, braucht der Patient auch kein Antibiotikum. Der CRP-Schnelltest kostet 2,50 Euro. Nach wenigen Minuten liegt das Ergebnis vor. Alternativ können Ärzte aber auch einen einen Streptokokken-Schnelltest durchführen, für den nur ein Rachenabstrich notwendig ist.

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Niedergelassene Ärzte übernehmen zu wenig Verantwortung

Doch bisher haben sich die CRP-Tests nur bei Kinderärzten als gängige Untersuchungsmethode durchgesetzt. Die meisten der anderen niedergelassenen Ärzte bieten ihn immer noch nicht an und setzen stattdessen auf ihre Erfahrung. Offensichtlich ist das Bewusstsein, dass auch sie eine ganz entscheidende Verantwortung für den zunehmenden Antibiotika-Mangel tragen, noch nicht besonders ausgeprägt. HNO-Ärztin Rosemarie Neumann hat jedoch festgestellt, dass ein Bewusstseinswandel unter Ärzten und auch der Kassenärztlichen Vereinigung erkennbar sei. "Davon zeugen Fortbildungen zum Thema, aber auch vielfältige Aktionen wie zum Beispiel zur Reduzierung multiresistenter Keime in den Kliniken", so die Medizinerin.

Fortbildung zur rationalen Antibiotika-Therapie

Für Krankenhausärzte gibt es bereits Fortbildungen für "rationale Antibiotika-Therapie", um die Antibiotika-Gaben zu senken. Viele Krankenhäuser lassen ihre Mitarbeiter ausbilden. Ähnliches fordern Wissenschaftler auch für niedergelassene Ärzte. Doch bisher ist es schwierig, die niedergelassenen Ärzte zu erreichen oder gar zu verpflichten. Möglich wäre eine Verpflichtung, dass ein Schnelltest bei einem Atemwegsinfekt gemacht werden muss, bevor ein Antibiotikum verschrieben wird. Das würde den Ärzten auch die Argumentation gegenüber den Patienten erleichtern.

Die Bundesregierung plant im Rahmen der Deutschen Antibiotika- Resistenzstrategie (DART) die Forschung für neue Schnelltests voranzutreiben. Doch bisher haben sich noch nicht einmal die verfügbaren Tests durchgesetzt. Wissenschaftler fordern, schon in der Ausbildung der Ärzte einen größeren Schwerpunkt auf bessere Diagnostik zu legen und die Nachwuchsmediziner mehr für differenzierte Antibiotika-Gabe zu sensibilisieren. Doch die Umsetzung dieser Pläne geht noch sehr schleppend voran.

Dieses Thema im Programm:

NDR Story | 12.10.2015 | 22:00 Uhr

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