Sendedatum: 21.04.2017 15:20 Uhr

Integration gescheitert? Die Deutschtürken und das Votum

von Brigitte Lehnhoff

Auch viele Deutschtürken im Norden haben für die Verfassungsänderung in der Türkei gestimmt. Für mehr Macht für Erdogan und gegen Gewaltenteilung. Dabei leben sie hier in einer Demokratie. Das können viele Deutsche nicht verstehen, fragen sich, was da womöglich schief gelaufen ist bei der Integration. Und auch in der muslimischen Community wird über die Gründe diskutiert.

"Das ist wie in der Türkei: Das alles hat sehr viele tiefe Risse und Spaltungen hinterlassen." Ginge es nach Hatice Flörchinger, bliebe die türkische Verfassung so wie sie ist. Trotzdem kann die Sozialpädagogin aus Hannover nachvollziehen, warum in Deutschland überdurchschnittlich viele Türken für das Präsidialsystem gestimmt haben. Das sei eine rein emotionale Entscheidung für Erdogan gewesen. Er vermittele ein Gefühl der Zugehörigkeit, das viele Türken in Deutschland nicht erfahren hätten: "Es sind ja sehr viele als Zielscheibe von Rechtsradikalen angegriffen worden. Das schlimmste war ja Solingen. Das hat sich bei vielen Türken eingebrannt. Die haben sich richtig abgelehnt gefühlt, nach dem Motto: Egal, was wir machen, sie werden uns sowieso nicht akzeptieren."

Eine Frau hält einen türkischen und einen deutschen Pass in den Händen © picture alliance / dpa
In Deutschland leben etwa 3,5 Millionen Türkeistämmige, davon 1,5 Millionen mit türkischem Pass.

Und wütend mache sie bis heute die Behauptung von Thilo Sarrazin, dass Türken sich hier nicht integrieren wollten: "Das stimmt nicht. Es gibt sehr viele Leute, die hier eine Heimat gefunden haben, sich integriert haben, sich zuhause fühlen und hier ihre Ausbildung gemacht haben. Die dann zum Beispiel Arbeit suchen, aber keine finden, weil sie einen ausländischen Namen haben. Das ist sehr enttäuschend."

So ähnlich sieht es auch Yilmaz Kilic, Vorsitzender des Moscheeverbandes Ditib Niedersachsen-Bremen. "Da hat die deutsche Politik Fehler gemacht, wir Verbände auch. Wir müssen Angebote machen an die Menschen, die hier leben, die Deutschen müssen sich öffnen und wir müssen gemeinsam unsere gemeinsame Zukunft gestalten."

Forderung nach Reformen

Nun ist das mit der Gemeinsamkeit schwierig nach dem aggressiven und verletzenden Wahlkampf. Ziemlich viel Porzellan sei zerschlagen worden, meint Senol Uygur vom Forum Dialog Niedersachsen, einer Vereinigung der Gülen-Bewegung, benannt nach dem türkischen Prediger Fethullah Gülen. Sie wird in der Türkei als Terrororganisation eingestuft, ihre Anhänger werden auch in Deutschland oft von Erdogan-Anhängern unter Druck gesetzt. "Es ist natürlich ein Vertrauensbruch da", so Uygur, "durch die Ditib-Moscheen und die Prediger, die ja aufgeflogen sind, die die Leute bespitzelt haben. Der Bruch ist da, und man muss wieder das Vertrauen gewinnen. Das müsste dann von der Ditib kommen, die ja gesteuert wird von der Regierung."

Deutsch-Türken bei der Erdogan-Großkundgebung im Juli 2016 in Köln © imago
AUDIO: Integration gescheitert? (4 Min)

Yilmaz Kilic bestreitet das. Der Ditib Bundesverband und die Landesverbände seien selbstständige Organisationen, nach deutschem Recht gegründet. Kilic gibt sich zwar betont gelassen, doch fragen sich kritische Beobachter schon, ob es nun nicht noch schwieriger werden wird für den Islamverband, sich von Ankara zu lösen und, wie auch von niedersächsischen Politikern gefordert, entsprechende Reformen einzuleiten. Wird es zum Beispiel gelingen, den Einfluss der türkischen Religionsattachees zurückzudrängen?

"Lösung innerhalb der Bundesrepublik finden"

"Das Gute daran ist: Durch diese Negativerlebnisse können wir sagen, da wir hier leben, müssen wir eine Lösung innerhalb der Bundesrepublik finden", findet Avni Altiner von der Jama’at-Nur-Gemeinde in Hannover. "Wie können wir Theologen hier ausbilden, wie können Theologen, die hier ausgebildet sind, in den Moscheen eingesetzt werden?"

Der ehemalige Vorsitzende des Moscheeverbandes Schura Niedersachsen sieht nicht nur die politischen Beziehungen belastet, sondern auch die interreligiösen. Zu beobachten sei das beispielsweise beim Neubau von Moscheen: "Man ist sehr kritisch. Man beobachtet, wer der Bauherr ist, ob das eine Ditib-Moschee oder ein freier Träger ist. Der Dialog zwischen Muslimen und Christen, zwischen Stadt und der muslimischen Gemeinschaft, hat da richtig gelitten - in der gesamten Bundesrepublik. Da muss man wieder neue Akzente setzen und miteinander reden."

Zum Nachhören
Deutsch-Türken bei der Erdogan-Großkundgebung im Juli 2016 in Köln © imago
4 Min

Integration gescheitert?

Warum haben so viele Deutschtürken für die Verfassungsänderung in der Türkei gestimmt? Ist es Protest, Frust oder Patriotismus? Brigitte Lehnhoff hat sich umgehört. 4 Min

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 21.04.2017 | 15:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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