Stand: 02.07.2015 14:43 Uhr

Fall Gröning: Die Schuld eines "kleinen Rädchens"

von Oliver Weiße
Jüdische Deportierte aus Ungarn stehen vor Bahnwaggons, mit denen sie gerade im Todeslager Auschwitz-Birkenau angekommen sind. © picture alliance / AP Photo
Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurden etwa 1,3 Millionen Menschen ermordet, darunter 1,1 Millionen Juden.

Etwa 1,3 Millionen Menschen sind im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz bis 1945 ermordet worden - die meisten davon waren Juden. Kinder, Frauen, Männer wurden von den deutschen Tätern vergast, erschossen oder durch Arbeit vernichtet. Der gesamte Komplex Auschwitz glich einer Fabrik - ausgelegt darauf, Menschen industriell zu töten. In Betrieb hielten das größte nationalsozialistische Konzentrationslager in der Nähe von Krakau (Polen) zwischen 1940 und 1945 rund 7.000 bis 8.000 Männer und Frauen der SS (Schutzstaffel) - von KZ-Kommandanten wie Rudolf Höß bis zum einfachen SS-Mann. Diese Männer und auch Frauen arbeiteten in einer Maschinerie und ein Rädchen griff in das andere, sagt die Berliner Historikerin Susanne Willems im Gespräch mit NDR.de. Eines dieser Rädchen war laut Willems der SS-Mann Oskar Gröning.

Beihilfe bei der Ermordung von 300.000 Juden

Der heute 94-Jährige steht derzeit vor dem Landgericht Lüneburg, wegen seiner Beteiligung an der Tötung von rund 300.000 ungarischen Juden, die im Frühjahr und Sommer 1944 im KZ Auschwitz ermordet wurden. Die Anklage wirft dem heute körperlich gebrechlich erscheinenden Gröning vor, als SS-Unterscharführer an der Mordaktion beteiligt gewesen zu sein. Dass er in Auschwitz war und dort Dienst tat, hat Gröning in seinen Aussagen in früheren Jahren nie in Abrede gestellt. Er hat es zum Prozessauftakt bestätigt und eine moralische Schuld eingeräumt. Während es für Gröning ein Dienstort war, öffneten sich für die Opfer aus ganz Europa in Auschwitz die Tore der Hölle. Die Beschreibungen der Überlebenden von Vergasungen und den schier unvorstellbaren Grausamkeiten, die sich dort abgespielt haben, sind im Prozess wieder wach geworden.

Rädchen im Vernichtungsapparat

Dass Gröning mehr als eine moralische Schuld auf sich geladen hat, davon geht die Auschwitz-Expertin Susanne Willems aus. Ja, Gröning sei damals mit Anfang 20 ein kleines Rädchen in der Mordmaschinerie Auschwitz gewesen, sagt sie. Zwar hätten die dort stationierten SS-Angehörigen ein unterschiedliches Maß an Schuld getragen. Doch die Historikerin, die jüngst zum Konzentrationslager Auschwitz neue Forschungsergebnisse in einem Buch veröffentlicht hat, sagt, dass Gröning und die Tausenden anderen SS-Angehörigen Teil des auf Massenmord ausgerichteten Verbrechens waren. Gröning trägt ihrer Ansicht nach damit auch eine tatsächliche Schuld.

Historikerin Susanne Willems forscht zu Auschwitz

Die Berliner Historikerin Susanne Willems hat sich in mehreren Büchern mit dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung beschäftigt. Einer ihrer Schwerpunkte ist das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. An der Berliner Humboldt-Universität war Willems Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Teil des systematischen Massenmords

In den Medien wird Gröning als "Buchhalter von Auschwitz" beschrieben. Das sei sicherlich zu hoch gegriffen, meint Willems. Als gelernter Sparkassenkaufmann und SS-Unterscharführer gehörte Gröning aber offenbar zur Abteilung IV, der SS-Standortverwaltung. Diese Abteilung sei unter anderem für das Raubgut der Opfer zuständig gewesen. "Angesichts von Hunderten Kinderwagen, Abertausenden von Brillen, Schuhen, Kleidungsstücken und Zahngold muss jedem, der in Auschwitz in der Verwaltung tätig war, klar gewesen sein, dass er Teil des Systems der Vernichtung war", macht Susanne Willems deutlich. Aber schon allein die Ankunft in Auschwitz hätte gereicht haben müssen, um zu erkennen, dass hier massenhaft Menschen umgebracht werden. "Dazu musste man nicht einmal Dienst an der Rampe in Auschwitz-Birkenau haben", betont die NS-Forscherin. Dabei hätten sich die Täter absetzen können, sei es durch Versetzung oder in letzter Konsequenz auch durch Fahnenflucht. Warum sie dies nicht taten, sei auch damit zu erklären, dass sie sich nicht schuldig fühlten und sich offenbar als Teil des nationalsozialistischen Weltanschauungskampfes begriffen.

Die SS finanzierte sich auch mit Raubgut

SS-Reichsführer Heinrich Himmler (vorne links) besichtigt mit einem Repräsentanten der IG Farben und SS-Offizieren die Baustelle eines Werks des Chemie-Unternehmens bei Auschwitz - dort mussten KZ-Häftlinge arbeiten. © picture-alliance / Mary Evans Picture Library/WEIMA
Die SS (Schutzstaffel) unter SS-Reichsführer Heinrich Himmler (vorne links) tötete nicht nur die Menschen in den Konzentrationslagern, sie raubte zudem die Opfer systematisch aus.

Übergeordnet war den einzelnen Abteilungen in Auschwitz die Standortkommandantur. Der gesamte Lagerkomplex Auschwitz und die anderen Vernichtungslager Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka im Osten Polens sowie die anderen Konzentrationslager unterstanden dem Wirtschaftsverwaltungshauptamt, welches Teil des Reichssicherheitshauptamtes der SS in Berlin war. Diese von Himmler und seinen Untergebenen geschaffene Behörde war eine der zentralen Stellen des nationalsozialistischen Deutschlands, die die Unterdrückung und Ermordung der NS-Opfer in ganz Europa steuerte. Der SS unter Reichsführer Heinrich Himmler flossen somit die in den Konzentrationslagern geraubten Gelder, das Gold und der Schmuck zu. Männer wie Gröning waren es, die das Vermögen weiterleiteten. Das habe letztlich auch der Finanzierung der SS gedient, sagt Willems. Zudem sei das Vermögen aus dem Raubgut im Reichshaushalt eingerechnet worden. Auch wenn heute viele Unterlagen fehlen, weil die SS bei Kriegsende die Spuren des Massenmords verwischen wollte, liegt der Schluss nah, dass die Opfer zynischerweise für das Auskommen ihrer Mörder sorgten.

Auf insgesamt rund 800 Waggonladungen wird die Menge des Raubguts in Auschwitz geschätzt. Die gehorteten Armbanduhren seien an SS-Angehörige und Ausgebombte beispielsweise in Berlin verteilt worden, so Willems.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Lüneburg | 24.04.2017 | 15:30 Uhr

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