CD der Woche: "Mein Traum" - Eine kuriose Konzeption
Was diese Aufnahme eint, ist ein wacher Geist aller Ausführenden, der so ungleiche Empfindungen wie Freude und Melancholie, Sehnsucht und Trost zusammenführt.
Ein kurzes Leben lang suchte er nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit. In einigen Phasen sogar auf verzweifelte Weise. Er schrieb Briefe und bat um rasche Antwort. Das Alleinsein war ihm zuwider. Und dann schreibt Franz Schubert mit 25 Jahren, im Jahr 1822, einen kurios anmutenden Text: "Mein Traum". Die kurze Erzählung zeigt eine Mutter im Sarg und einen Vater, der seinen Sohn gestreng von sich weist, um ihn letztlich doch noch in die Arme zu schließen. Inspiriert von dieser Erzählung hat der Dirigent Raphaël Pichon ein neues Album zusammengestellt - eine ebenfalls kuriose Konzeption.
Der weniger bekannte Franz Schubert im Fokus
Düstere Akkorde deuten hin auf Schmerz und das Gefühl, verloren zu sein. Dann fragt eine Stimme erschrocken: "Wo bin ich?" Mit diesem Ausschnitt aus dem unvollendeten Oratorium "Lazarus" eröffnen das Ensemble Pygmalion und Raphaël Pichon ihr neues Album "Mein Traum". Im Fokus steht der weniger bekannte Franz Schubert, wie etwa beim Chor "Zur Jagd" aus der Oper "Alfonso und Estrella". Franz Liszt hat dieses Werk über 30 Jahre nach seiner Entstehung in Weimar uraufgeführt. Da war Schubert längst tot. Insofern ergibt sich auch eine Verbindung, wenn Dirigent Pichon auf diesen Opern-Ausschnitt unmittelbar Schuberts Lied vom "Doppelgänger" folgen lässt - und zwar für Orchester bearbeitet von: Franz Liszt.
Mit dem Bariton Stéphane Degout und der Sopranistin Sabine Devieilhe hat Pichon zwei Solisten gewonnen, die mit ihren jeweils unterschiedlichen Ansätzen die so unterschiedlichen Facetten der Stücke entsprechend herausarbeiten, wie etwa beim erfreulich kitschfreien "Ave Maria".
Kernstück dieses Albums ist Schuberts h-Moll-Sinfonie, die so genannte "Unvollendete". Es passt zur Konzeption dieses Album, dass die einzig vollständig erhaltenen Sätze nicht zusammenhängend präsentiert werden, sondern eine Arie aus Carl Maria von Webers Oper "Oberon" zwischengeschaltet wird.
Ein traumartiges Fresko
Ja, dieses Album zeigt eine Reihe von direkten und indirekten Bezügen, überraschenden und verblüffenden - Bezügen, die sich vielleicht nicht sofort erschließen. Müssen sie das? Pichon hat, in Anlehnung an Schuberts "Traum"-Erzählung, ein ebenfalls traumartiges Fresko entworfen, so logisch und zugleich so schwer zu entschlüsseln wie Träume nun mal sind.
Was diese Aufnahme eint, ist ein wacher Geist aller Ausführenden, der so ungleiche Empfindungen wie Freude und Melancholie, Sehnsucht und Trost zusammenführt. Pichon und das Ensemble Pygmalion gehen, auch wenn sie letzte Extreme meiden, dem Charakter dieser Musiken umsichtig auf den Grund. Das zeigt sich auch daran, dass die einzelnen Titel meist ineinander übergehen. Ein geheimnisvolles, ahnungsvolles Mäandern durch ungekannte Zwischenreiche.
Mein Traum
- Label:
- Harmonia Mundi