Ralf Dahrendorf 2004 bei einer Vorlesung in Wien © picture-alliance / dpa Foto: epa apa Schneider

Ralf Dahrendorf: Soziologe und liberaler Vordenker

Stand: 29.04.2019 12:00 Uhr

Der in Hamburg geborene deutsch-britische Soziologe gilt als einer der wichtigsten Vertreter einer liberalen Gesellschafts- und Staatstheorie. Er prägte die Entwicklung der deutschen Nachkriegssoziologie maßgeblich.

Dahrendorf wird am 1. Mai 1929 in der Hansestadt geboren. Sein Vater Gustav arbeitet als Redakteur bei der sozialdemokratischen Zeitung "Hamburger Echo" und gehört der SPD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft an, 1932/1933 ist er zudem Abgeordneter im Deutschen Reichstag.

Erst im Jungvolk, dann im Visier der Gestapo

Der Soziologe Ralf Dahrendorf 2006. © picture-alliance/dpa/dpaweb Foto: Rolf Haid
Ralf Dahrendorf war ein deutsch-britischer Soziologe und Politiker.

Obwohl seine Eltern eine regimekritische Haltung vertreten, wird Ralf Dahrendorf Mitglied des Jungvolks und ist - wie viele Kinder - begeistert von der deutschen Wehrmacht: "Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich nach Hause kam und triumphierend sagte, wir haben jetzt Dänemark und Norwegen besetzt, und dann bei den Eltern sofort spürte, dass es eine ganz andere Reaktion gab", erzählt er in seiner Biografie "Über Grenzen". "Ich glaube, von dem Tag an war mir klar, dass es eine andere Perspektive gibt auf die Ereignisse als die, die in der Schule gepredigt wurde." Dahrendorf beginnt, sich politisch gegen das Regime zu engagieren, und gerät immer stärker ins Visier der Gestapo. Wegen Beteiligung an einer illegalen Schülervereinigung wird er Ende 1944 im Konzentrationslager Schwetig/Oder inhaftiert -15 Jahre alt ist er zu dieser Zeit.

Akademische Karriere als Sozialwissenschaftler

Professor Ralf Dahrendorf Eröffnung Soziologentag Frankfurt © picture-alliance / dpa Foto: Manfred Rehm
Ralf Dahrendorf (hier ein Foto aus dem Jahr 1968) wurde bereits mit 29 Jahren Professor in Hamburg.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt Dahrendorf in Berlin-Zehlendorf. Ab 1947 studiert er in Hamburg Philosophie und Klassische Philologie und promoviert über Karl Marx, 1952 bis 1954 absolviert er ein Graduiertenstudium in Soziologie an der renommierten London School of Economics and Political Science und erwirbt dort auch einen britischen Doktortitel. Anschließend forscht er als Assistent an der Universität Saarbrücken und habilitiert sich dort 1957 mit einer Schrift über "Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft". Dahrendorf wird mit nur 29 Jahren Professor an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, lehrt in Tübingen, wechselt 1966 an die neu gegründete Universität Konstanz und übernimmt mehrere Gastprofessuren in den USA.

Politiker mit ausgeprägtem Freiheitswillen

Der Hamburger belässt es nicht bei einer Hochschul-Karriere, sondern ist auch als Politiker, Journalist, Ökonom und Vordenker der Liberalen im öffentlichen Leben Europas aktiv. Seinen ausgeprägten Freiheitswillen sieht er durch die Erfahrungen in der Nazi-Zeit begründet, wie er 2005 bei einem Interview im Deutschlandradio erklärt: "Das elementare Motiv, das sie bei mir gestärkt, vielleicht auch geweckt haben, ist das Motiv, nicht eingesperrt zu sein, frei zu sein, Möglichkeiten zu haben, nach eigenen Absichten, Wünschen, Lebensplänen zu wirken. Das kommt schon vor aller Demokratie. Das heißt, das ist das wirklich Elementare."

Eintritt in die FDP

Ralf Dahrendorf und Rudi Dutschke bei einer Diskussion auf dem FDP-Bundesparteitag 1968 in Freiburg. © picture-alliance / dpa Foto: Fritz Reiss
Mit APO-Vorreiter Rudi Dutschke lieferte sich Dahrendorf 1968 eine legendäre Debatte auf einem Autodach.

Bereits in den 60er-Jahren kämpft Dahrendorf für "Bildung als Bürgerrecht". 1967 tritt er der FDP bei, zieht 1968 in den Landtag von Baden-Württemberg ein und wird mit Mitglied des Bundesvorstands der Partei. Für die Positionen der APO (Außerparlamentarische Opposition der Studentenbewegung) jedoch kann er sich nicht begeistern: Am Rande des Freiburger FDP-Parteitags kommt zu einer legendären Diskussion auf einem Autodach mit Rudi Dutschke, dem Vordenker der APO, in deren Verlauf sich Dahrendorf deutlich von dessen Haltungen absetzt.

Bundestagsabgeordneter, Staatsminister und EU-Kommissar

1969 zieht Dahrendorf in den Bundestag ein, wird vom damaligen Außenminister Walter Scheel als Staatsminister ins Auswärtige Amt geholt und ist von 1970 bis 1974 Mitglied der Europäischen Kommission. Beträchtliches Aufsehen erregen im Sommer 1971 zwei unter dem Pseudonym Wieland Europa in der "Zeit" veröffentlichte Artikel, in denen Dahrendorf scharfe Kritik an den Europäischen Institutionen und an der Arbeitsweise der Berufs-Europäer übt.

Seiten eines Kalenders © Fotolia_80740401_Igor Negovelov
AUDIO: Vom NS-Gegner zum britischen Lord (15 Min)

1983 fordert Dahrendorf, inzwischen Rektor der Eliteforschungsstätte London School of Economics und Vorsitzender der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, auf dem Dreikönigkstreffen der Liberalen in Stuttgart eine programmatische Erneuerung seiner Partei mit neuen Formen der sozialen Bindungen, der Selbsthilfe und der Solidarität. 1988 tritt er sogar aus der FDP aus. Im selben Jahr nimmt er zur deutschen auch die britische Staatsbürgerschaft an. Er siedelt ganz nach England über, wo er bis zu seiner Pensionierung 1997 an der University of Oxford wirkt.

Von der Queen zum Lord ernannt

Ralf Dahrendorf 1968 im Wahlkampf für die FDP. © picture-alliance / dpa Foto: Fritz Reiss
Ralf Dahrendorf war viele Jahre Mitglied der FDP, trat 1988 aber aus.

Königin Elisabeth II. erhebt Dahrendorf 1993 wegen seiner Verdienste um das Empire in den Adelsstand. Ab diesem Zeitpunkt darf sich Ralf Dahrendorf nicht nur Baron of Clare Market in the City of Westminster nennen, sondern ist auch Mitglied des Oberhauses des britischen Parlaments (House of Lords), wo er sich unter anderem um Europa- und Bildungsfragen kümmert. Sowohl in Deutschland als auch England bleibt der Lord einer der wichtigsten Vertreter einer liberalen Staats- und Gesellschaftstheorie in Europa, er gilt als Querdenker und prägt den wissenschaftlichen und politischen Diskurs.

Unzählige Auszeichnungen und Ehrendoktortitel

In seiner Biografie bezeichnet Ralf Dahrendorf sich selbst als "Glückskind auf der Überholspur". Er erhält unzählige Preise und Ehrungen, darunter das Große Bundesverdienstkreuz mit Schulterband und Stern, den Knight Commander of the Order of the British Empire und Ehrendoktorwürden von Universitäten in zwölf Ländern. Vor allem wegen seines politischen und sozialen Engagements ist Lord Dahrendorf Europas Vorzeige-Würdenträger.

Privat ist Dahrendorf dreimal verheiratet: Aus der ersten Ehe mit der Britin Vera Banister stammen drei Töchter. Von 1980 bis 2004 ist er mit der Amerikanerin Ellen Joan Krug verheiratet, die letzten Jahre bis zu seinem Tod mit der deutschen Ärztin Dr. Christiane Klebs. Am 17. Juni 2009 stirbt Dahrendorf im Alter von 80 Jahren in Köln nach schwerer Krankheit.

Weitere Informationen
Ralf Dahrendorf 2004 bei einer Vorlesung in Wien © picture-alliance / dpa Foto: epa apa Schneider
25 Min

Ralf Dahrendorf im Gespräch

Ralf Dahrendorf über die EU-Osterweiterung und das Jahr 1989. 25 Min

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Beitrages hieß es, Ralf Dahrendorf wäre am 1. Mai 2019 100 Jahre alt geworden. Dies trifft nicht zu, er wäre am 1. Mai 2019 90 Jahre alt geworden. Wir haben die Angabe korrigiert und bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | ZeitZeichen | 01.05.2014 | 19:05 Uhr

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