Demonstranten mit Transparenten gegen die Atomrüstung auf einer Maikundgebung 1958. © picture-alliance / dpa Foto: Gerhard Rauchwetter

"Kampf dem Atomtod!"

Stand: 20.07.2021 10:21 Uhr

Mit dem "Göttinger Appell" protestieren Wissenschaftler 1957 gegen Adenauers Pläne zur atomaren Bewaffnung. Ihr Manifest wird zur Grundlage für die Kampagne "Kampf dem Atomtod".

von Britta Probol

"Duck & cover", singt die Zeichentrick-Schildkröte "Bert the Turtle" in einem amerikanischen Zivilschutz-Filmchen der 50-Jahre: Wenn die Atombombe fällt, duck dich und halte dir etwas über den Kopf - zum Beispiel eine Zeitung! Die Supermächte USA und UdSSR wetteifern um die Entwicklung der Wasserstoffbombe, kraftmeiern mit ihrer neuen Waffentechnik und laden Zuschauer zu Atomtests in die Wüste ein. Grotesk-naiv erscheint aus heutiger Sicht der Umgang mit der atomaren Gefahr zu Beginn des Kalten Krieges.

Atomwaffen - nur eine "Weiterentwicklung der Artillerie"?

Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß umringt von Bundeswehrpersonal und Fotografen vor einem Panzer-Modell. © dpa
Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß - hier 1958 während eines Herbstmanövers - waren Verfechter der atomaren Aufrüstung.

Auch die Bundesregierung stuft die "Wirkungen dieser furchtbaren Waffe", so Bundeskanzler Konrad Adenauer, damals als durchaus beherrschbar ein. Ist es Naivität oder politische Unverfrorenheit - am 5. April 1957 verkündet Adenauer in einem Interview, die taktischen Atomwaffen seien "nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie", und natürlich müsse die Bundesrepublik "auch in der normalen Bewaffnung die neueste Entwicklung mitmachen".

Hintergrund dieser brisanten Aussage: Adenauer und sein Verteidigungsminister Franz Josef Strauß wollen taktische, also "kleine" Atomsprengköpfe für die damals noch nicht mal zwei Jahre alte Bundeswehr. Die Bundesrepublik, jüngstes NATO-Mitglied, solle die von US-Verteidigungsminister Charles E. Wilson ausgegebene "Doktrin der abgestuften Abschreckung" mit umsetzen und sich damit im Atlantikbündnis als gleichberechtigter Partner etablieren.

Weitere Informationen
Bundeswehrsoldaten in Baumholder (Rheinland-Pflalz) inspizieren am 13. März 1957 eine US-amerikanische Waffe, die in der Lage ist, Atomgranaten abzufeuern. © picture alliance / AP Foto: Horst Faas

Eine Welt in Waffen: Der Westen mit Bundeswehr und NATO

Die deutsche Wiederbewaffnung wird in den 50ern zur Streitfrage. Doch der Kalte Krieg stimmt viele in ihrer Haltung zu Streitkräften um. mehr

18 Atomwissenschaftler gehen an die Öffentlichkeit

Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und Walther Gerlach (v.l.) treffen am 17. April 1957 in Bonn zu einer Unterredung ein. © dpa
Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und Walther Gerlach (v.l.) gehörten zu den Unterzeichnern des "Göttinger Appells".

Die öffentliche Verharmlosung von Nuklearwaffen auf höchster politischer Ebene löst in der Wissenschaft Bestürzung aus und ruft die "Göttinger 18" auf den Plan. Die westdeutschen Kernphysiker - darunter Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker - formuliern binnen einer Woche eine Erklärung, die als "Göttinger Appell" vom 12. April 1957 in die Geschichte eingeht.

Das von Otto Hahns Büro an die Presse lancierte Papier setzt das von den Nuklearwaffen ausgehende Gefahrenpotenzial ins rechte Licht und schließt mit den Worten:

"Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen." aus dem Göttinger Appell vom12. April 1957

Protest gegen Atomwaffen formiert sich in der Bevölkerung

Der "Göttinger Appell" sollte den Anstoß für die erste breite außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik liefern. Aus dem Humus dieses Widerstands erwächst die Kampagne "Kampf dem Atomtod", die sich mit Unterstützung von SPD, Kirchen und Gewerkschaften in den darauffolgenden Monaten allmählich zu formieren beginnt.

120.000 Menschen demonstrieren in Hamburg

In einer repräsentativen Meinungsumfrage vom Februar 1958 sprechen sich 83 Prozent der Bundesbürger gegen die Aufstellung atomarer Abschussrampen in Westdeutschland aus. Trotzdem beschließt der Bundestag am 25. März 1958 nach hitzigen Debatten, die Bundeswehr mit Trägersystemen für Atomwaffen auszurüsten. Die Sprengköpfe selbst sollen in amerikanischer Obhut bleiben.

Nach diesem Beschluss bricht eine Lawine von spontanen Schweigemärschen, Protestkundgebungen und Arbeitsniederlegungen los. Am 19. April 1958 finden Großdemonstrationen in Hamburg, Bremen, Kiel, München, Mannheim, Dortmund und Essen statt. In Hamburg gehen 120.000 Menschen auf die Straße - die bislang größte Massenkundgebung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die SPD fordert sogar eine Volksbefragung zur Atombewaffnung. Die Mai-Kundgebungen sind vom Thema dominiert, und noch im Juni halten die Proteste an.

Rückzug der SPD - die Kampagne stirbt

Die CDU-Regierung schafft es jedoch, die Kampagne in Misskredit zu bringen, indem sie sie als "kommunistisch gesteuert" brandmarkt. Als die CDU dann bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Juni 1958 einen überwältigenden Sieg einfährt, beginnt die SPD, sich deutlich aus der Bewegung zurückzuziehen. Mit ihrem Bad Godesberger Programm orientiert sich die Partei schließlich 1959 in Richtung große Koalition und Befürwortung der Bundeswehr.

Durch das Fehlen dieser wichtigen logistischen Unterstützung fällt die Bewegung "Kampf dem Atomtod" endgültig in sich zusammen. Aus ihren Trümmern wird sich später die Ostermarsch-Bewegung rekrutieren.

Weitere Informationen
Otto Hahn (m) und Fritz Straßmann (l) erklären ihre Entdeckung. © picture-alliance / KPA/TopFoto Foto: 91050/KPA/TopFoto

Die Entdeckung der Kernspaltung

1939 erfährt die Fachwelt von der ersten erfolgreichen Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann. Das Atomzeitalter beginnt. mehr

Aus Hamburg kommende Demonstranten auf ihrem Marsch am 18. April 1960: Demonstranten in Regenkleidung halten Plakate wie 'Atomare Aufrüstung bedeutet Krieg und Elend'. © picture-alliance / dpa Foto: Marek

Wie sich der Ostermarsch zur Friedensbewegung entwickelte

Der erste Protestmarsch führt 1960 ab Karfreitag in die Lüneburger Heide. In diesem Jahr finden die Märsche bis zum 1. April statt. mehr

Landwirte und Anwohner ziehen am 25. März 1979 bei einer Demonstration gegen Kernkraft und das Vorhaben, in Gorleben ein atomares Endlager zu errichten, durchs Wendland. © picture alliance/dpa Foto: Klaus Rose

Öko-Hochburg Wendland: Vom Atom-Protest zum Bio-Anbau

Niedersachsens Geschichte ist auch von Anti-Atom-Protesten geprägt. Ende der 70er wächst im Wendland die Öko-Bewegung heran. mehr

Protest gegen das Zwischenlager Gorleben im September 2007. © dpa

Gorleben - Der Aufstand der Bauern

Der Widerstand ortsansässiger Landwirte hat sich über Jahrzehnte zu einem langlebigen Protest gegen die Atompolitik entwickelt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Mittagsecho | 06.04.2017 | 13:35 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Die 50er-Jahre

Mehr Geschichte

Kaufhaus-Chef Franz Weipert 1974 bei der ersten offiziellen Fahrt der Gondelbahn über den Bootshafen in Kiel. © Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte Foto: Friedrich Magnussen

Als man in Kiel zum Einkaufen mit der Gondelbahn fahren konnte

Heute vor 50 Jahren wurde in Kiel eine ganz besondere Attraktion eingeweiht: die Weipert-Bahn, die über den Bootshafen führte. mehr

Norddeutsche Geschichte