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Lübecker Märtyrer: Vereint gegen Hitler - und hingerichtet

Stand: 10.11.2023 05:00 Uhr

Vier Lübecker Geistliche haben in der NS-Zeit ihre Konfessionen überwunden und sich vereint gegen Hitler gestellt. Am 10. November 1943 wurden sie deshalb hingerichtet. Die drei Katholiken wurden 2011 seliggesprochen.

von Stefanie Grossmann

"Der Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer, ist vielleicht am überzeugendsten." Mit diesem Ausspruch erinnerte bereits Papst Johannes Paul II. 1994 an die Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Zu ihnen gehören auch die katholischen Priester Hermann Lange, Johannes Prassek und Eduard Müller sowie der evangelische Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink. Mit ihrer Seligsprechung durch Papst Benedikt XVI. beziehungsweise dem ehrenden Gedenken am 25. Juni 2011 in Lübeck bekamen alle vier eine späte Anerkennung - für das Überwinden von Konfessionen, um gemeinsam gegen die Willkür-Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes zu handeln.

Spirituelle Wohngemeinschaft von Prassek, Lange und Müller

Eduard Müller, Johannes Prassek, Hermann Lange (Montage, v.l.n.r.) © Pressestelle Lübecker Märtyrer
Eduard Müller, Johannes Prassek und Hermann Lange (v.l.n.r.)

Obwohl Lange, Prassek und Müller aus verschiedenen Regionen Deutschlands kamen, schienen sich ihre Wege schon früh zu kreuzen. Alle drei absolvierten in den 1930er-Jahren ihr Studium in Münster und besuchten anschließend das Priesterseminar in Osnabrück. In Lübeck begann ihr gemeinsames Wirken. Die Travestadt galt damals in höchsten Kirchenkreisen als "unkirchlich" und war fest in den Händen der Protestanten. Erst mit dem Bau der Herz-Jesu-Kirche nahm die katholische Kirche in der Hansestadt wieder einen festen Platz ein. Alle drei Priester empfanden ihr Wirken in dieser "Diaspora" als Herausforderung.

Johannes Prassek trat 1939 eine Stelle als Kaplan in Lübeck an und schrieb an einen Freund: "... auch hier muss man sich um Kleinstes mühen, auch hier wachsen die Heiligen nicht in paradiesischer Selbständigkeit aus dem Boden." Nur sechs Wochen nach Prassek zog Hermann Lange in das Pfarrhaus an der Parade und nahm eine Stelle als Vikar an. 1940 komplettierte Eduard Müller die spirituelle Wohngemeinschaft.

"Brüder vom gleichen Stamm"

Eduard Müller mit Jugendlichen beim Ausbau eines Kirchenkellers zum Jugendraum. © privat
Die Arbeit mit Jugendlichen gehörte zu den Aufgaben der Priester. Hier baute Eduard Müller mit ihnen einen Jugendraum auf.

Vom Charakter unterschieden sich die drei Kapläne grundlegend, doch der Soldat und Weggefährte Stephan Pfürtner beschrieb sie auch als "Brüder vom gleichen Stamm". Johannes Prassek sei ein "Leader" gewesen, der besonders durch seine charismatische Begabung für Menschen auffiel. Lange wirkte eher bürgerlich, zielgerichtet und Müller war ein "Herzensmensch", so Pfürtner. Der gelernte Tischler galt als Spätberufener, war unpolitisch und verstand sich als Soldat Christi, der das Reich Gottes verteidige, erläuterte der Lübecker Historiker Peter Voswinckel im Jahr der Seligsprechung 2011.

Dem Dreierbund gemein war ihr Engagement für die Jugend oder auch für Zwangsarbeiter. Prassek, Müller und Lange betrachteten die Seelsorge als ihr oberstes Ziel. Schockiert zeigten sie sich beispielsweise über die Deportation und Tötung von geistig behinderten Menschen - alleine 605 aus Lübeck.

Stellbrink: Vom Nationalsozialisten zum Widerständler

Familie Stellbrink mit ihren beiden Kindern Gerhard und Gisela 1926 in Brasilien. © privat
Acht Jahre war Karl Friedrich Stellbrink als Auslandsprediger in Brasilien. Das Bild zeigt ihn 1926 mit Frau Hildegard und den Kindern Gerhard und Gisela.

Der Lebensweg von Pastor Stellbrink verlief weit weniger geradlinig. Er wuchs in Detmold am Fuße des Hermannsdenkmals auf. Es symbolisierte das Deutschtum schlechthin. Kaiser Wilhelm stand damals als Protestant an der Spitze des Deutschen Reichs. Beides prägte den jungen Stellbrink ebenso wie die Ideologien des Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus wie auch eine Anti-Rom-Stimmung, die er im Johannesstift, einer Berliner Kaderschmiede des Nationalprotestantismus, vermittelt bekam.

Seine acht Jahre als Auslandsprediger in Brasilien bestärkten Stellbrink noch mehr in seinem Glauben an das völkische Deutschtum und den Nationalsozialismus. Der linientreue Pfarrer erschien der "braunen" Lübecker Kirchenregierung eine Idealbesetzung für eine Pfarrstelle in der Hansestadt zu sein. Als er 1934 das Amt annahm, predigte er noch Alfred Rosenbergs Thesen von einer arischen Herkunft Jesu, die frei von Rom und Juda ist.

Parteiausschluss im Jahr 1936

Die Lübecker Pfarrer beim Einzug in die neue Lutherkirche. Mit dabei auch Freidrich Karl Stellbrink (2. Reihe li.) © privat
1937 wurde die Lutherkiche in Lübeck feierlich eingeweiht. Unter den Teilnehmern war auch Pastor Stellbrink (2. Reihe links).

In den darauffolgenden Jahren verschlechterte sich sein Verhältnis zu den Kirchenoberen zusehends, weil er Kritik an der Jugendführung der Nationalsozialisten übte. Das Regime vereinnahmte die Jugend immer mehr für propagandistische Zwecke. 1936 wurde Stellbrink aus der Partei ausgeschlossen, der er seit 1933 angehörte. Eine seiner letzten großen Amtshandlungen war die Einweihung der Lutherkirche 1937, dem einzigen Kirchenneubau in Lübeck während des Dritten Reichs. 1939 distanzierte sich Stellbrink vollends von Hitlers Aggressionspolitik.

Verhältnis zwischen Kirche und Staat verdunkelt sich

Während in den ersten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs zwischen Kirche und Staat noch ein gewisser Burgfrieden herrschte, verschlechterte sich das Verhältnis 1941 deutlich. Das lag zum einen am Überfall auf Russland und zum anderen am "Bormann-Rundbrief". Darin legte der Leiter der Reichskanzlei klar, dass "nationalsozialistische und christliche Auffassungen unvereinbar sind". Inakzeptabel waren für viele Geistliche die Eingriffe in den kirchlichen Alltag wie der "Klostersturm", die Euthanasie-Methoden, die Beschränkung kirchlicher Presse sowie die Schließung konfessioneller Schulen und Kindergärten.

"Wer soll denn die Wahrheit sagen, wenn nicht wir?"

Johannes Prassek mit Gitarre © Familie Thoemmes
Johannes Prassek befand sich mit Karl Friedrich Stellbrink auf der gleichen geistigen und politischen Ebene.

In diesem vergifteten Klima trafen sich Stellbrink und Prassek im Mai/Juni 1941 eher zufällig bei einer Beerdigung. Die beiden temperamentvollen "Feuerköpfe", wie Stellbrinks Tochter Waltraut Kienitz sie rückblickend bezeichnete, lagen auf gleicher Wellenlänge. Sie besuchten sich fortan gegenseitig und tauschten Flugschriften, Hirtenbriefe, Zeitungsberichte und Predigten aus. "Dabei stellten sie bewusst konfessionelle Unterschiede zurück und akzeptierten den anderen als christlichen Mitbruder", so Historiker Voswinckel.

Außerdem machten sie sich auf neue Rundfunksender, sogenannte Feindsender, aufmerksam, deren Abhören unter Todesstrafe stand. Höhepunkt der Aktivitäten der vier Geistlichen war die Vervielfältigung und Verbreitung der berühmten Galen-Predigten, die unter den Nationalsozialisten als "Hetzschriften" galten. Die Predigten erreichten sogar die Soldaten an der Ostfront.

Bischof Clemens van Galen (1878-1949)

Die Predigten des Münsteraner Bischofs waren das lang erwartete Signal vieler Geistlicher im Zweiten Weltkrieg. Es war der erste öffentliche Protest eines Kirchenoberen. In drei Predigten prangerte van Galen im Sommer 1941 die Ausrottung des Christentums an. Er kritisierte die Übergriffe auf die Kirche, allen voran die Euthanasie-Aktionen der Nationalsozialisten. Der mächtige Bischof galt als Erzfeind Adolf Hitlers. Wegen seines hohen Ansehens blieb er vor Verfolgung verschont. Im Ausland wurde er wegen seiner Kritik auch als "Löwe von Münster" bekannt.

Sowohl Pastor Stellbrink als auch die drei Katholiken bekamen Warnungen, sich zu mäßigen. Besonders Johannes Prassek war sich der Folgen bewusst, dennoch blieb er auch in seinem Handeln konsequent: "Wenn ein Priester nicht die Wahrheit sagen kann, wer soll sie dann sagen?"

Gezielte Denunziation der vier Geistlichen

Zerstörte Häuser in der Lübecker Altstadt 1942. © picture-alliance / dpa
Nach dem schweren Bombenangriff am 28./29. März 1942 lag Lübeck in Trümmern.

Stellbrink traf es als Ersten. In der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 zerstörten britische Flugzeuge die Travestadt - es war der erste große Bombenangriff auf eine deutsche Stadt. Tief erschüttert hielt der Pfarrer am darauffolgenden Palmsonntag seine Predigt: "Gott hat mit mächtiger Stimme gesprochen, und die Lübecker werden wieder beten lernen." Ein Spitzel der Gestapo verfolgte den Gottesdienst und schrieb eifrig mit. Das Wort Gottesgericht war in der Predigt zwar nicht gefallen - doch der der Spitzel interpretierte es in Stellbrinks Worte hinein: "Der hat dann gesagt, Stellbrink habe den Bombenabwurf der Briten als Gottesgericht dargestellt", so Historiker Voswinckel.

Kurz darauf wurde Stellbrink aus dem Amt entfernt und verhaftet. Er bekam keinerlei Hilfen und durfte sich zu dem Vorgang nicht äußern, denn das Wort der Geheimpolizei war Gesetz.

Als Schutzhaft getarnte Isolationshaft

Auch Prassek, Lange und Müller wurden schon länger systematisch bespitzelt, doch mit ihrer Verhaftung ließ sich die Gestapo noch bis Mai/Juni Zeit. Mit ihnen wurden auch 18 zumeist katholische Laien verhaftet, die nach kurzer Zeit wieder freikamen. Für die vier Geistlichen aber begann eine lange und qualvolle Haftzeit. Was als Schutzhaft bezeichnet wurde, kam einer Isolationshaft gleich. Bis zum offiziellen Haftbefehl, der im Oktober erging, unterlagen die Inhaftierten im Lübecker Gefängnis am Burgtor einer totalen Nachrichten- und Besuchssperre. Auch die spätere Haftzeit in Hamburg war von elementaren Ängsten geprägt. So mussten die Geistlichen als Hinrichtungskandidaten beim großen Luftangriff "Gomorrha" auf Hamburg gefesselt in ihren Zellen bleiben, während andere Häftlinge ausgelagert wurden. "Das war wieder einmal wie ein Vorspiel des letzten Gerichts", beschrieb Lange die Situation in einem Brief an seine Eltern.

Das Urteil stand vor Prozessbeginn fest

Bischof van Galen fotografiert von Eduard Müller © Privat
Hitler betrachtete Bischof van Galen (l) als Erzfeind.

Die Anklage gegen Prassek, Lange, Müller und Stellbrink lautete auf Zersetzung der Wehrkraft, Rundfunkverbrechen, landesverräterische Feindbegünstigung und Verstoß gegen das Heimtückegesetz. Der Prozess am Lübecker Gericht war vom 22. bis 24. Juni 1943 terminiert und fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt - und sein Ausgang stand bereits im Voraus fest.

Der Volksgerichtshof in Berlin hatte sein Urteil schon der Verhandlung gefällt. Adolf Hitler persönlich hatte im März darauf hingewirkt. Weil er nicht riskieren wollte, dass sich prominente Geistliche wie Bischof Clemens van Galen für die Lübecker opferten, ließ er alle Passagen, die den Bischof betrafen, streichen. Denn Hitler glaubte nicht, dass die Vollstreckung der Todesstrafe eine nachteilige kirchenpolitische Rückwirkung auslösen könnte. Übrig blieb ein Rumpfdokument, gegen das selbst renommierte Anwälte nichts ausrichten konnten. Rechtsmittel waren in dem Schauprozess ebenfalls nicht zugelassen.

Die Todesstrafe wurde am 23. Juni verkündet - es war die erste für einen evangelischen Pfarrer. Nach der Verurteilung soll Prassek gesagt haben: "Gott sei Dank, der Quatsch hat endlich ein Ende."

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Die Geistlichen fanden keine Gnade

Während die katholische Kirche bis zuletzt Gnadengesuche einreichte, unternahm die evangelische nichts gegen die bevorstehende Hinrichtung. Am 10. November 1943 erfuhren die Lübecker im Hamburger Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis mittags von der Vollstreckung des Todesurteils um 18 Uhr. Die vier Geistlichen starben im Abstand von vier Minuten durch das Fallbeil. Zeitzeugen berichteten, dass "ihr Blut ineinanderfloss". Alle vier durften vorher noch einen Abschiedsbrief verfassen.

"Wir haben hier die große Gnade, zelebrieren zu dürfen. (...) Welcher Trost, welch wunderbare Kraft geht doch aus vom Glauben an Christus, der uns im Tode vorausgegangen ist." Auszug von Hermann Lange, 10. November 1943

"Gebe er Dir und mir die Gnade, dass wir immer mehr erkennen unsere Würde und Größe und unsere hohe Aufgabe in der Zeit des Hasses gegen alles Christliche." Auszug von Eduard Müller, 10. November 1943

"Heute Abend ist es nun soweit, das ich sterben darf. Ich freue mich so, ich kann es Euch nicht sagen, wie sehr." Auszug von Johannes Prassek, 10. November 1943

"Da gilt mein erstes Wort dem treuen Gott, der mich so tausendfach in meinem Leben bewahrt und mit unendlich vielen Freuden erfreut hat. Wahrlich es ist nicht schwer zu sterben und sich in Gottes Hand zu geben." Auszug von Karl Friedrich Stellbrink, 10. November 1943

Weil sie darin von der "Freude auf den Tod" schrieben, bekamen die Angehörigen die Briefe nicht überreicht. Erst 2004 erhielt Stellbrinks Tochter Waltraut Kienitz den Abschiedsbrief ihres Vaters, den sie zuletzt in der Todeszelle gesehen hatte. Das NS-Regime wollte mit dem Verschluss verhindern, dass die Geistlichen zu Märtyrern wurden.

Den Familien wurde nach der Hinrichtung die öffentliche Trauer verwehrt: Weder durften sie Todesanzeigen aufgeben noch ihre Angehörigen beerdigen. Es gab auch keinen offiziellen Gedenkgottesdienst.

Vereint über den Tod hinaus

Hermann Lange als Seminarist ca. 1937 © privat
Hermann kam 1912 im ostfriesischen Leer zur Welt.

Die evangelische Kirche tat sich lange schwer mit dem Andenken an Pastor Stellbrink, was sicher auch an seiner ambivalenten Biografie lag. Noch 1957 wurde er öffentlich verunglimpft, sein Todesurteil hob ein Berliner Gericht erst 1993 auf. Erst dann galt der Geistliche als rehabilitiert. Ganz anders die katholische Kirche: Sie hielt das Andenken an die vier Lübecker Widerständler zeitlebens hoch. Die Lübecker Märtyrer dienen heute als positives Beispiel für Ökumene, weil sie ihrer Zeit weit voraus waren. Zusammen haben sie gewirkt, zusammen sind sie gestorben und vor Gott galten sie nicht als getrennt. Das bezeugte auch Hermann Lange mit seinem Ausspruch: "Wir sind wie Brüder."

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 12.11.2023 | 19:30 Uhr

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