Stand: 15.11.2019 12:55 Uhr

Kriegsbeginn 1939: Auftakt zum Inferno

von Andrej Reisin
Rauchsäulen über der Westerplatte in Danzig nach dem Angriff deutscher Soldaten am 1. September 1939. © picture-alliance
Um 4.45 Uhr am 1. September 1939 beginnt der Angriff auf die Westerplatte, eine Halbinsel vor Danzig. Die Schüsse der "Schleswig-Holstein" gelten bis heute als Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Der 1. September 1939 ist in Norddeutschland ein herrlicher Spätsommertag mit Temperaturen um die 27 Grad und einem lauen Wind aus nordwestlichen Richtungen. Wer es sich leisten kann, fährt übers Wochenende an die Küste oder besucht die Parks und Schwimmbäder der Städte. Selbstverständlich gilt dies nur für diejenigen Einwohner, die laut der Nürnberger Rassegesetze der Nazis "arischer Abstammung" sind: Juden wurde der Besuch von Bädern und Kurorten bereits 1937 verboten.

Schlachtschiff fährt unter falschem Vorwand nach Polen

Im Seebad Swinemünde auf Usedom brüstet man sich damit, bereits in den 20er-Jahren Hakenkreuzfahnen gehisst und den Ort nach und nach "judenrein" gemacht zu haben. Aus dem dortigen Hafen läuft am 24. August 1939 das deutsche Kriegs- und Schulschiff "Schleswig-Holstein" aus - offiziell, um der freien Stadt Danzig einen "Freundschaftsbesuch" abzustatten. Inoffiziell nimmt das Schiff in der Nacht vom 24. auf den 25. August auf hoher See 225 ostpreußische Marineinfanteristen an Bord. Kapitän Gustav Kleikamp war bereits am 16. August zum Oberkommando der Marine nach Berlin gerufen und dort in die Angriffspläne gegen Polen eingeweiht worden.

"Heim ins Reich": Die "Befreiung" Danzigs

Danzig mit seiner mehrheitlich deutschen Bevölkerung ist nach dem Ersten Weltkrieg zum Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes erklärt worden und liegt seitdem eingeschlossen vom polnischen Staatsgebiet zwischen den zum Deutschen Reich gehörenden Provinzen Ostpreußen und Pommern. Der Status der Stadt ist den Nationalsozialisten schon lange ein Dorn im Auge und Zentrum einer von Joseph Goebbels betriebenen Propagandaschlacht, die lautstark die Forderung erhebt, Danzig müsse "heim ins Reich". Dass dies nur als Vorwand für einen Angriff dient, hat Adolf Hitler gegenüber führenden Offizieren bereits am 23. Mai 1939 auf dem Obersalzberg deutlich gemacht: "Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten."

Verlauf des Überfalls auf Polen: Die ersten Schüsse

Am Vormittag des 25. August 1939 erreicht die "Schleswig-Holstein" den Danziger Hafen. Hans Lots aus Edemissen bei Peine, damals als Maschinist mit an Bord, erinnerte sich später: "Es durfte keiner an Land, die Marineinfanteristen sowieso nicht. Wenn sie auch nur an Deck wollten, mussten sie sich zur Tarnung Kleidung von uns leihen. Nach ein paar Tagen hieß es dann: 'Alle Mann raus, wir sind zur Befreiung Danzigs eingesetzt!'" Um 4.45 Uhr am 1. September 1939 beginnt der Angriff auf die Westerplatte, eine Halbinsel vor Danzig, auf der die polnische Armee ein befestigtes Munitionslager mit etwa 218 Mann Besatzung unterhält. Die Schüsse der "Schleswig-Holstein" gelten bis heute als Beginn des Zweiten Weltkriegs.

"Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!"

Führer und Reichskanzler Adolf Hitler begründet in seiner Rede vor dem Reichstag in Berlin am 1. September 1939 den Angriff auf Polen. © picture-alliance/dpa
Am 1. September 1939 gibt Reichskanzler Adolf Hitler vor dem Reichstag den Kriegsbeginn bekannt.

In Deutschland wird die Bevölkerung über den Rundfunk dazu aufgefordert, sich für eine Ansprache des Führers vor den Radioempfängern einzufinden. Gegen zehn Uhr morgens lässt Adolf Hitler sich in Berlin zum Reichstag fahren. Dann spricht er die mittlerweile berühmt-berüchtigten Sätze, die eine völlige Umkehrung der realen Geschehnisse bedeuten und die Deutschen glauben machen sollen, man führe einen gerechten Verteidigungskrieg: "Ich will nicht den Kampf gegen Frauen und Kinder führen. Ich habe meiner Luftwaffe den Auftrag gegeben, sich auf militärische Objekte bei ihren Angriffen zu beschränken. Wenn aber der Gegner daraus einen Freibrief ablesen zu können glaubt, seinerseits mit umgekehrten Methoden kämpfen zu können, dann wird er eine Antwort erhalten, dass ihm Hören und Sehen vergeht! Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!"

Beginn des Zweiten Weltkriegs: Die Älteren sind skeptisch

Auch wenn Hitler sich aus ungeklärten Gründen um eine Stunde vertut, verfehlt die Rede ihre Wirkung vor allem bei der jüngeren Generation nicht. Der Hamburger Ralph Brauer, Jahrgang 1927, berichtet von seiner Stimmung: "Als meine Mutter mir im Sommer 1939 erzählte, dass es wohl Krieg geben würde, freute ich mich. Es war ja keiner da, der sagte, das gibt eine Katastrophe." Allgemeine Kriegsbegeisterung wie teilweise zu Beginn des Ersten Weltkrieges herrscht dagegen vor allem bei den Älteren nicht. Werner Mork ist damals Angestellter in einem Radiogeschäft und bereitet den sogenannten Gemeinschaftsempfang der Führerrede vor. Er erzählt: "Alle standen ruhig auf, als das verklungen war, es war ein betretenes Schweigen. Ganz ehrlich: Mir erschien das damals zu wenig. Ich ging also auf den Dachboden, um die schwarz-weiß-rote und die Hakenkreuzfahne zu holen, weil ich dachte, jetzt müsse man doch die Fahnen hissen."

Nazis halten Versorgung aufrecht

Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images
Mit Kriegsbeginn setzen die Nazis noch mehr Zwangsarbeiter ein, etwa für die Arbeit in Rüstungsfabriken.

Auch an der "Heimatfront" ändert sich der Alltag mit Beginn des Polen-Feldzugs: Bereits am 1. September 1939 werden Lebensmittelkarten für Fett und Fleisch, Milchprodukte und Zucker eingeführt, ab Oktober auch für Bekleidung. Es gelingt den Nazis, anders als im Ersten Weltkrieg, die Versorgung der Bevölkerung weitgehend aufrecht zu erhalten. Dafür sorgen auch die rücksichtslose Ausbeutung der besetzten Ostgebiete sowie die sofort mit Kriegsbeginn einsetzende Verschleppung von Millionen von Menschen zum "Arbeitseinsatz im Reich", der Unzählige das Leben kostet. Ab 1939 steigert sich die Zahl der Zwangsarbeiter kontinuierlich, bis Kriegsende leisten etwa allein in Hamburg 500.000 Menschen Zwangsarbeit, zumeist Sklavenarbeit unter unmenschlichen Bedingungen.

Vernichtungskrieg gegen Polen: Luftwaffe greift zuerst an

In Polen führt die Wehrmacht von Anfang an einen Vernichtungskrieg. Noch bevor die Schüsse der "Schleswig-Holstein" fallen, greift die Luftwaffe an. Vom schlesischen Schloss Schönwald aus startet gegen vier Uhr morgens ein Geschwader von sogenannten Sturzkampfbombern (Stukas). Ihr Ziel: das militärisch völlig unbedeutende polnische Städtchen Wielun unweit der Grenze. Die Stadt ist vollkommen unbefestigt, ohne Garnison, Luftabwehr oder Bunker. Ungefähr um halb fünf in der Frühe beginnt der Bombenterror: In drei Angriffswellen werfen die deutschen Flieger 380 Bomben mit einer Sprengkraft von zusammen mehr als 45.000 Kilogramm ab. Rund 1.200 Menschen werden getötet, die Stadt durch den Bombenhagel und die anschließenden Brände zu 90 Prozent zerstört. Und das, obwohl selbst der Kommandeur des Geschwaders "keine besondere Feindbeobachtung" melden konnte.

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Terror gegen die polnische Zivilbevölkerung

Während Hitler in Berlin also noch verkündet, die Luftwaffe beschränke sich auf militärische Ziele, haben die Hermann Göring unterstellten Verbände bereits ihr erstes Massaker verübt. Der Historiker Jochen Böhler konstatiert: "Die Luftangriffe auf Polen waren von vornherein nicht als rein militärische Angriffe, sondern als Terrorangriffe geplant. In den ersten Wochen des Krieges wurden Hunderte von Ortschaften bombardiert, unabhängig davon, ob sie mit polnischen Soldaten besetzt waren oder nicht."

Am Ende kehrt der Tod heim ins Reich

Zerstörte Gebäude in Hamburg-Eilbek nach den alliierten Luftangriffen im Sommer 1943. © picture-alliance / dpa
Nach den Luftangriffen der Alliierten liegen viele deutsche Städte wie etwa Hamburg in Trümmern.

Nach der Besetzung Polens verheimlichte das Regime seine mörderische Kriegsführung übrigens keineswegs: Propaganda-Minister Goebbels lässt voller Begeisterung einen Film "über die gewaltigen Leistungen der Luftwaffe" drehen, den er voller Zynismus "Die Feuertaufe" nennt. Allerdings verfehlt der Streifen teilweise seine Wirkung, denn in den geheimen Berichten des Sicherheitsdienstes der SS heißt es, die Bilder der Zerstörung hätten vor allem bei Frauen "Stimmen des Mitleids mit den Polen" und eine "bedrückende, verängstigte Stimmung" hervorgerufen. Vielleicht ahnen einige der Kinobesucher bereits, dass die Schrecken des Krieges eines Tages heimkehren werden: Als Lübeck, Hamburg, Hannover, Bremen und andere deutsche Städte ab 1942 im Bombenhagel versinken, erntet die Bevölkerung in grauenvoller Weise jene Früchte des Terrors, den ihre Führung und Armee am 1. September 1939 entfesselt hat.

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23.08.2014 | 11:30 Uhr

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