Stand: 05.07.2016 15:29 Uhr

Thomas Mann: "Der Zauberberg"

In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Thomas Manns "Der Zauberberg".

Von Hanjo Kesting

Buchcover: Thomas Mann "Der Zauberberg" (Ausgabe von 1981 mit Kommentar von Peter de Mendelssohn) © S. Fischer
Zweiter der vier großen Romane Thomas Manns: Der Zauberberg.

Ein junger Mensch, Hans Castorp, fährt im Sommer 1907 von seiner Heimatstadt Hamburg auf Erholungsreise in die Schweizer Alpen. Im Sanatorium Berghof in Davos besucht er seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen, der die Offizierslaufbahn einschlagen will. Ein kurzer Familienbesuch, weiter nichts. Aber dann zieht die Welt des Sanatoriums Hans Castorp in Bann, die verführerische Atmosphäre des Zauberbergs, die Aura von Krankheit und Frivolität, die "dort oben", im Luxusmilieu der Lungenkranken, alles durchdringt.

Hans Castorp erlebt moralische, geistige und sinnliche Abenteuer, zu denen er nicht ohne Weiteres vorbestimmt schien. Und dann entdeckt Hofrat Behrens, der Chefarzt des Sanatoriums, auch noch eine feuchte Stelle in seiner Lunge. Die Abreise verzögert sich, und aus den Wochen werden Monate, aus Monaten Jahre. Festgehalten wird Hans Castorp auch durch die Faszination einer Frau, die türenschlagende und Nägel kauende Clawdia Chauchat. Gleichzeitig lauscht er den pädagogischen Belehrungen des italienischen Literaten Settembrini und gerät später in den Bann von dessen Widersacher Naphta, der einen asketischen Gottesstaat propagiert auf Grundlage heilsamen Terrors. Aus Hans Castorp, dem Hamburger Bürgersohn, wird mehr und mehr ein träumerischer Gralssucher, der sich geheimnisvollen Prüfungen und Initiationsriten unterzieht, die ihn immer tiefer in die Welt des Zauberbergs und ihre esoterischen Geheimnisse hineinführen. All diese Erlebnisse und Begegnungen – eine Liebes-Walpurgisnacht mit Clawdia Chauchat, der Tod des Vetters Joachim Ziemßen, okkulte Experimente und die Traumvision des einsamen Bergwanderers im Schnee, sind real und symbolisch zugleich, sie werden transparent für die Stimmungslage der Zeit, der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg, mit dem das alte Europa aus den Fugen gerät.

Thomas Mann: "Zauberberg" ist ein "Zeitroman"

"Der Zauberberg" war der zweite der vier großen Romane Thomas Manns, erschienen 1924, auf dem Scheitelpunkt der Weimarer Republik, die aus der Kriegsniederlage von 1918 hervorgegangen war und vierzehn Jahre später mit Beginn eines sogenannten Dritten Reiches buchstäblich unterging. Thomas Mann hat den "Zauberberg" einen "Zeitroman" genannt, und tatsächlich sind die großen Themen und Fragen der Epoche darin aufgeworfen, voran die Geisteskämpfe in allen ihren Spielarten. Es gerät dem Buch nicht zum Nachteil, dass die Aktualität vom Tage, wie Marokko-Krisen und deutsche Flottenpolitik, unerwähnt bleiben. Dafür bietet das Buch eine Vielzahl von Figuren auf, die jedem Leser unvergesslich bleiben. Es ist ein großes Buch, ein magistrales Buch, unvergleichlich in artistischer Hinsicht, es stellt große Ansprüche an den Leser, an seine Geduld, seine Bildung, nicht zuletzt an seine Zeit.

Das Werk lebt aus der Kraft der Erzählung, aus seinem inneren Beziehungszauber, den Antagonismen von Krankheit und Gesundheit, Geist und Natur, Todessympathie und Lebensdienst, aus dem feinen Spiel zwischen dem Realen und dem Ideellen. Nicht zuletzt lebt es von der unermüdlichen Geduld des Erzählers, der die Langwierigkeit seines Unternehmens oft beklagte und sich zum Trost das Goethe-Wort zitierte: "Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß."

Hans Castorp wird als Siebenschläfer bezeichnet, und man kann nicht umhin, dabei an das Buch des australischen Historikers Christopher Clark über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs zu denken, das den Titel "Die Schlafwandler" trägt. Thomas Mann hat diese Metapher schon vor neunzig Jahren verwendet, denn auch er selbst war ein Schlafwandler gewesen. Sein Held Hans Castorp, der "philosophischen Taugenichts", wie er einmal genannt wird, ist eine sehr deutsche Figur. Durch seine Perspektive wird alles - oder fast alles - erzählt, er bestimmt, beherrscht, "trägt" das Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Aber was sich aus seiner Geschichte lernen lässt, bleibt dem Leser überlassen. Sein Krankheitsbild ist das vieler Zeitgenossen; er selbst nennt es "Sympathie mit dem Tode", und er weiß in seinen besten Augenblicken, dass er diese Sympathie bekämpfen und überwinden muss.  Aber zuletzt muss er in den Krieg, und ob er davonkommt, bleibt im Ungewissen. 

Übersicht
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 16.08.2016 | 09:20 Uhr

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Romane

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