Stand: 09.06.2016 14:23 Uhr

Ehebruch im puritanischen Milieu New-Englands

In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Nathaniel Hawthornes "Der scharlachrote Buchstabe".

Von Hanjo Kesting

Cover - Nathaniel Hawthorne: "Der scharlachrote Buchstabe" © Hanser
Nathaniel Hawthornes ganzes Werk handelt von menschlicher Schuld und das Böse - so auch sein Debütroman "Der scharlachrote Buchstabe".

Boston um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts: An einem Sommertag tritt eine junge und schöne Frau, Hester Prynne mit Namen, aus dem Gefängnis und besteigt, ihr unehelich geborenes Kind auf dem Arm, den Pranger, wo sie den Blicken der gaffenden Menge preisgegeben ist. Auf der Brust trägt sie, in scharlachroter Farbe, den Buchstaben A: für Adulteress, Ehebrecherin.

Das ist die Ausgangskonstellation von Nathaniel Hawthornes Roman "Der scharlachrote Buchstabe", im Original "The Scarlet Letter". Als er 1850 erschien, galt er sogleich als Markstein der noch jungen amerikanischen Literatur - Henry James nannte ihn "das vorzüglichste Prosawerk, das amerikanischem Boden entsprungen ist".

Handlung in New-England, Land der "Pilgrim Fathers"

Hawthorne brachte seinen ersten Roman in nur vier Monaten zu Papier, fast ohne jede Korrektur. Solche Meisterschaft war die Frucht einer zwanzigjährigen Übung auf dem Gebiet der erzählenden Prosa: bedeutende Erzählungen und Kurzgeschichten waren vorausgegangen. Die meisten von ihnen spielen, wie "Der scharlachrote Buchstabe", im puritanischen Milieu New-Englands, das im frühen siebzehnten Jahrhundert von den "Pilgrim Fathers" besiedelt worden war.

Es ist jene Region, der Hawthorne selber entstammte. Seine Vorfahren begleiteten den jungen Schriftsteller wie dunkle Schatten, voran der Urgroßvater, der bei den berüchtigten Hexenprozessen von Salem viele Todesurteile gefällt hatte. Mit Recht konnte der Urenkel sagen, das Blut der Vorfahren habe "einen tiefdunklen Flecken auf ihm hinterlassen". Manches von der Strenge der Familientradition blieb in der Seele des Schriftstellers erhalten. Sein gesamtes Werk kreist um die Frage menschlicher Schuld und das Problem des Bösen. Es ist diese blackness, die fast allen Romanen und Erzählungen Hawthornes ihre dunkle Glut verleiht, so dunkel glühend wie der scharlachrote Buchstabe auf Hester Prynnes Kleid.

"Der scharlachrote Buchstabe" ist, wie Flauberts "Madame Bovary", Tolstois "Anna Karenina" und Fontanes "Effi Briest", ein Ehebruchsroman, zeitlich der erste in dieser Reihe, mit dem Unterschied, dass der Ehebruch nicht das Zentrum der Geschichte bildet, sondern zu ihrer Vorgeschichte gehört. Und die Handlung spielt nicht in aktueller Gegenwart, sondern zweihundert Jahre früher, als das öffentliche Prangerstehen noch eine weithin geübte Praxis war.

Historischer Ehebruchroman mit modernen Bewusstsein

Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben; Gemälde aus dem 19. Jahrhundert. © Bianchetti/Leemage Foto: Bianchetti/Leemage
Hester Prynne ist gleichsam die Eva (hier zu sehen auf einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert) vor dem Sündenfall.

So ist Hawthorne's Buch in gewissem Sinn ein historischer Roman, geschrieben aber aus der Perspektive eines modernen Bewusstseins, wie die vielschichtigen Charaktere der drei Hauptfiguren belegen. Hester Prynne ist gleichsam die Eva des Paradieses, aber vor dem Sündenfall; ihr Prangerstehen ist wie eine heimliche Huldigung, die ihr dargebracht wird, und das Zeichen ihrer Schande trägt sie wie einen Schmuck. Ihr Ehemann verfolgt mit finsterer Beharrlichkeit seine Rachepläne, und sein Instinkt führt ihn traumwandlerisch sicher zu dem puritanischen Geistlichen Dimmesdale, dem Vater von Hesters Kind. Dimmesdale ist die wichtigste Figur des Buches und sein interessantester Charakter. Mit seinem glühenden Sendungsbewusstsein und seiner bezwingenden Redekunst genießt er zwar hohes Ansehen, aber er leidet an einer sehrenden Krankheit als Folge seiner verborgenen Schuld. Wie der Gralskönig Amfortas ist er der heilige Sünder, dessen innere Qual sich in dem Maße verschlimmert, in dem seine öffentliche Reputation steigt.

Hawthornes Kunst der Darstellung, seine allegorischen Überhöhungen, nicht zuletzt die Meisterschaft seines feinen, verschlungenen Stils sichern seinem Buch eine Vielschichtigkeit, die sich einer eindeutigen Interpretation widersetzt. Es ist auf einen Leser angewiesen, der die ängstlichen Abgründe der puritanischen Seele als ein Erbteil begreift, an dem auch moralisch laxere Zeiten noch zu tragen haben. Hester Prynne trägt den scharlachroten Buchstaben bis an ihr Lebensende, mehr und mehr aber als ehrfurchtgebietendes Zeichen. Immer häufiger kommen Frauen zu ihr, um Rat und Trost zu suchen, bis, wie es am Ende des Buches heißt, "eine neue Wahrheit offenbar werde, um das ganze Verhältnis zwischen Mann und Weib auf einer sicheren Grundlage gegenseitigen Glücks zu errichten".

Übersicht
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 21.06.2016 | 09:20 Uhr

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Romane

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