Stand: 22.06.2016 12:25 Uhr

Marcel Prousts Epos: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"

In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Marcel Prousts: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" .

Von Hanjo Kesting

Cover: Marcel Proust - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit © Reclam
Zwei Drittel des Romanzyklus von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" wurden erst posthum veröffentlicht.

Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gehört zu den vielbestaunten Kolossalwerken der Literatur im zwanzigsten Jahrhundert, dem Umfang nach gewaltig, der Substanz nach unerschöpflich, nach Stil und Schreibweise unvergleichlich subtil. Das siebenbändige Werk ist immer wieder mit dem "Ulysses" von James Joyce und Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" verglichen worden, aber es ist in Wirklichkeit ein ganz für sich stehendes, singuläres Werk, vor allem durch die Kunst, die Realität durch ihre genaue Beschreibung gleichsam aufzulösen und sie gleichzeitig im Prozess der Erinnerung zurückzugewinnen. 

Der erste Band "In Swanns Welt" (Du coté de chez Swann) erschien 1913, als Privatdruck auf Kosten des Autors. Er enthält einige der berühmtesten Passagen wie die über das Madeleine-Teegebäck und die Beschreibung einer Weißdornhecke. Dennoch fand das Buch wenig Beachtung, und erst als Proust sechs Jahre später für den zweiten Band "Im Schatten junger Mädchenblüte" den Prix Goncourt, den angesehensten französischen Literaturpreis, erhielt, wurde er einem breiteren Publikum bekannt. Der zeitlebens kränkelnde Autor hatte sich da längst in seine Wohnung am Boulevard Haussmann zurückgezogen, die er später gegen ein fast schalldichtes Zimmer in der Rue Hamelin eintauschte - die "asketische Zelle eines Mystikers der Kunst", wie gesagt worden ist. Aber Proust war auch ein Märtyrer der Kunst, der schwerkrank einen Wettlauf mit der Zeit führte, um ihr sein großes Werk abzutrotzen. Die Krankheit, die ihn hemmte, half ihm zugleich: Sie lehrte ihn sehen, machte ihn zum Erinnerungsvirtuosen. Erst im Dämmerlicht seiner gegen die Welt abgeriegelten Stube begann die Welt für ihn zu leben; als Ausgeschlossener schuf er ein Kunstwerk für Ausgeschlossene, ein "Freudenbrevier für diejenigen, denen viele menschliche Freuden versagt sind", wie er schrieb. Proust starb 1922. Mehr als ein Drittel der viereinhalbtausend Seiten des großen Romans erschien erst nach seinem Tod: der siebte und letzte Band erst fünf Jahre später, 1927.

Materiell unabhängiger Autor

Proust war ein materiell unabhängiger Autor. Daran mag es liegen, dass die Geldfrage und, im weiteren Sinn, die soziale Frage in seinem Roman keine Rolle spielt. Das hat man dem Autor gelegentlich zum Vorwurf gemacht, wie auch die Tatsache, dass er große Teile des Zyklus in dem historisch überlebten Marionetten- und Lemurenreich des hohen Adels angesiedelt hat. Aber gerade diese Welt der Hocharistokratie bot Proust die Möglichkeit, wie unter einer Glasglocke zu arbeiten, die verrinnende Zeit im Akt der Erinnerung zu bannen.

Es gehört zu den Grundtatbeständen dieses Romans, dass wir die Wirklichkeit weder besitzen noch begreifen außer in der Erinnerung. Erinnerung als Beschwörung des im unmittelbaren Erleben noch in Dunkel gehüllten Augenblicks. Der Roman ist der Versuch, die Gesamtheit einer ins Unterbewusste abgesunkenen Welt aus der Erinnerung wiederzufinden, mit aller Schärfe der Konturen und Leuchtkraft der Farben, in sinnlicher Unmittelbarkeit: "ein kleines Quantum reiner Zeit" ("un peu de temps à l'état pur"). Was am Ende des siebten Bandes mit diesen Worten verheißen wird, ist da als Roman längst Wirklichkeit geworden. Das Prinzip der unwillkürlichen Erinnerung sichert dem Buch seinen luftigen, gleichsam schwebenden Aggregatzustand, in den man sich träumerisch versenken kann unter völligem Ausschluss der äußeren Welt. Sobald sie den Lesenden aufstört, ist auch das innere Gleichgewicht eines Buches gefährdet, das zuweilen den Charakter eines Traums annimmt.

Die sieben Bände des Zyklus bilden ein herrliches großes Gewebe mit zahllosen wunderbaren Einzelheiten, aber sie erschließen sich nur im Ganzen und vom Schluss des letzten Bandes mit dem Titel "Die wiedergefundene Zeit". Der Autor hat die letzten Seiten des großen Werks unmittelbar nach dem Anfang geschrieben, was ein Zeichen ist für die innere Zusammengehörigkeit des Ganzen. So entstand eine großartige Romanarchitektur, von der Wolfgang Koeppen sehr schön gesagt hat, dass sie "wunderbar proportioniert und herrlich vermauert bis in die Wolken reicht".

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 05.07.2016 | 09:20 Uhr

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Romane

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