Stand: 05.07.2016 15:29 Uhr

Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen"

In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Honoré de Balzacs: "Verlorene Illusionen".

Von Hanjo Kesting

Cover - Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen" © Hanser
Honoré de Balzacs Roman "Verlorene Illusionen" besteht aus drei Teilen.

"Es gibt für mich nichts Erstaunlicheres als mich selbst", hat Honoré de Balzac, der französische Schriftsteller, über sich gesagt: Der Satz, weit entfernt von Größenwahn, bezog sich auf seine unbegreifliche Produktivkraft, auf die neunzig Romane und Erzählungen, die er unter dem Obertitel "Die Menschliche Komödie", "La Comédie humaine", gesammelt hat und die zweifellos das größte Leseerlebnis darstellt, das man im neunzehnten Jahrhundert haben kann. Sie ist eine epische Vision, eine Neuerschaffung der Welt mit den Mitteln der Erzählung.

Eines der berühmtesten Bücher in Balzacs Roman-Universum trägt den Titel "Verlorene Illusionen". Er besteht aus drei Teilen, und der mittleren Teil, auf den ich mich beschränken muss, heißt: "Ein großer Mann aus der Provinz in Paris". Er greift ein Leitmotiv der französischen Literatur auf: das Motiv eines jungen Mannes, der aus der Provinz nach Paris kommt, voller Ehrgeiz und tollkühner Wünsche. Er heißt Lucien de Rubempré und träumt von einer literarischen Laufbahn, aber die Eindrücke der großen Stadt überwältigen ihn zunächst, und seine geringe Barschaft schmilzt mit beängstigender Schnelligkeit dahin.

Der Roman handelt vom Pressewesen zu Balzacs Zeiten

Balzacs Roman handelt hauptsächlich vom Verlags- und Pressewesen seiner Zeit, er ist der erste der großen Presseromane des neunzehnten Jahrhunderts und von allen der bedeutendste. Balzac war mit den Mechanismen der Presse aufs Genaueste vertraut und analysierte sie mit prophetischer Hellsicht zu einer Zeit, als sie sich gerade erst herauszubilden begannen. Bereits hier ist all das antizipiert, was Karl Kraus ein halbes Jahrhundert später auf die Formel brachte: "Am Anfang war die Presse, und dann erschien die Welt". Hinter der Presse steht als noch größere Macht das große Kapital. Balzacs Roman entstand in der Zeit des Bürgerkönigtums, als regierungsamtlich die Parole ausgegeben wurde "Enrichissez-vous" ("Bereichert euch").

Lucien de Rubempré ist zutiefst aufgewühlt von seinen Pariser Eindrücken, er sagt: "Mir widerfahren an einem einzigen Abend mehr Ereignisse als in den ersten achtzehn Jahren meines Lebens." Er will sich als Theaterkritiker versuchen und gerät in die Welt des Spiels und des schönen Scheins, die Balzac mit überwältigender Intensität beschreibt. Sie erscheint wie unter einem Vergrößerungsglas. Hier ist alles sinnliche Evokation, die Sätze rauschen wie Harfenklang, und die Adjektive blitzen wie Geschmeide. Oscar Wilde schrieb: »Wenn man die ›Menschliche Komödie‹ gelesen hat, fängt man an zu glauben, dass die einzig wirklichen Menschen die sind, die es in Wirklichkeit nicht gegeben hat.« Als Theaterkritiker kreiert Lucien de Rubempré eine neue Form des Feuilletons, die ihn schlagartig bekannt macht. Tatsächlich wurde das moderne Feuilleton in den 1820er Jahren in Paris erfunden, und in Balzacs Roman ist dieser historische Augenblick festgehalten.

"Dank Balzac wird keine frühere Epoche der Zukunft so genau bekannt sein wie die unsere", schrieb George Sand. Gleichwohl war er kein Dokumentarist, in weit höherem Maße war er ein Visionär. Seine Gestalten haben ein ungeheuer intensives Leben, und seine Erfindungen leuchten so tief wie Träume. Er kannte die menschlichen Leidenschaften und Obsessionen, die finsteren nicht weniger als die edlen: den blendenden Ruhm, die rücksichtslose Verschwendung, die stolze Armut, den tödlichen Geiz, die verzehrende Gier, die abgründige Verzweiflung, die verächtliche Macht, das giftige Geld, die hochherzige Liebe. So brachte Balzac eine andere, neue Welt hervor, eine fiktionale Welt von machtvoller Wirklichkeit, aus der eigenen Tiefe heraufgeholt.

Am Ende des Buches sehen wir Lucien de Rubempré auf der Höhe seiner öffentlichen Geltung, bis seine kühnen Hoffnungen von einem Tag auf den anderen zerplatzen. Er hat sich zu viele Feinde gemacht. Sein Roman wird in der Presse totgeschwiegen, und seine immensen Schulden kann er nur bezahlen, indem er den Besitz eines Jugendfreundes verpfändet. So kehrt der "große Mann aus der Provinz" in eben diese Provinz zurück, all seiner Illusionen beraubt. Das Reisegeld verschafft ihm eine Bedienstete, indem sie sich prostituiert.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 26.07.2016 | 09:20 Uhr

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Romane

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