Stand: 02.05.2016 17:30 Uhr

Daniel Defoe: "Robinson Crusoe"

In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe.

Von Hanjo Kesting

Robinson Crusoe wird nach dem Schiffbruch an die Insel geschwemmt, Illustration: John Dawson, 1891 © picture-alliance / 91020/UA/WHA
Robinson Crusoe wird nach dem Schiffbruch an die Insel geschwemmt (Illustration: John Dawson, 1891).

Ein Roman aus England steht am Anfang der modernen europäischen Erzählliteratur: Daniel Defoes "Robinson Crusoe", geschrieben 1719 von einem fast sechzigjährigen Autor, der bis dahin vor allem ein politischer Journalist gewesen war. Die Geschichte des schiffbrüchigen Sklavenhändlers, der auf eine einsame Insel verschlagen wird und dort mit Umsicht und Entschlossenheit daran geht, sich die Erde untertan zu machen, war das meistgelesene Buch des achtzehnten Jahrhunderts und blieb bis heute eines der populärsten Bücher überhaupt: literarisches Urgestein von fast schon sagenhafter Herkunft, Erinnerung an ferne Kindheits- und Jugendträume.

Defoe's Roman hat es sich gefallen lassen müssen, immer wieder bearbeitet und dabei nicht selten verunstaltet zu werden. Es gibt Robinsone von hundert und solche von fünfhundert Seiten Umfang, solche in altmodischem Deutsch und andere, die sich wie Groschenromane lesen. Aber die zahllosen Bearbeitungen sind auch ein Zeichen für die enorme Lebenskraft des Buches und beweisen nur, dass es einfach nicht umzubringen ist.

Raffinierter und komplexer

Den jungen Robinson treibt es zur See, und davon lässt er sich weder durch die Besorgnisse seiner Mutter noch die Mahnungen seines Vaters abhalten. Als er sich an Bord eines sogenannten Guineafahrers begibt, um als Sklavenhändler zu Reichtum zu kommen, wird er vor der Küste Südamerikas auf eine einsame Insel verschlagen. Nachdem er einiges Werkzeug vom Wrack des Schiffes hat retten können, geht er mit kühlem Kopf daran, seine neue Umgebung zu prüfen, drohende Gefahren zu bedenken und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Er wägt die Vorteile und Nachteile seiner Situation gegeneinander ab und verfährt dabei wie ein Kaufmann, der Soll und Haben gegenüberstellt. Und nachdem er sich auf der Insel so gut wie möglich eingerichtet hat, beginnt er mit der Tinte, die er vom Schiff hat retten können, ein Tagebuch zu führen und seine Erlebnisse und Gedanken darin festzuhalten. Die Niederschrift des Tagebuchs ist das wichtigste Indiz seiner menschlichen Selbstbehauptung. Und da wir alle Erlebnisse Robinsons in zweifacher Spiegelung kennenlernen, zunächst durch seinen im Rückblick geschriebenen Bericht, dann durch sein Tagebuch, erweist sich die Erzählweise des Romans als viel komplexer und raffinierter, als der äußere Anschein zunächst nahelegt.

Instinkt und Tatkraft des Kolonisators

Daniel Defoe © picture alliance/Heritage Images
Daniel Defoe lebte von 1660 bis 1731. Hier wurde er von Michael Vandergucht gezeichnet.

"Doch nun komme ich zu einem neuen Abschnitt meines Lebens", sagt Robinson, bevor er erzählt, wie er nach fünfzehn Jahren völliger Einsamkeit den Abdruck eines menschlichen Fußes am Strand entdeckt. So scheinbar kunstlos introduziert Defoe einen der unvergesslichen Augenblicke der Weltliteratur. Später, nach einem Kampf mit Kannibalen, gewinnt Robinson einen Gesellen und Diener, den er Freitag nennt. Dieser entspricht dem Typus des "edlen Wilden", für den das achtzehnte Jahrhundert schwärmte, aber dass Robinson der Herr und Freitag sein Diener ist, erschien hier wie etwas Naturgegebenes. Robinson betritt seine Insel mit dem Instinkt und der Tatkraft des Kolonisators, in ihm ist, wie James Joyce schrieb, "der ganze angelsächsische Geist, die Ausdauer, die wirkungsvolle Intelligenz, die sexuelle Apathie, die praktische Religiosität und die berechnende Schweigsamkeit".

Der englischste aller englischen Schriftsteller

Der Schluss des Buches berichtet von Robinsons Befreiung und seiner Rückkehr nach England, was stofflich zwar notwendig ist, aber nicht den eigentlichen Reiz des Buches ausmacht. Sein Fokus ist zweifellos die Inselgeschichte, nicht nur weil sie achtzig Prozent des Textes in Anspruch nimmt, während die vorausgehenden Abenteuer und Robinsons Heimkehr als bloße Rahmenhandlung von der Erinnerung vernachlässigt werden.

Wenn man an Robinson denkt, dann denkt man ihn auf seiner Insel, das ist es, was die Figur so stark, was sie unsterblich macht. Das haben bereits die Zeitgenossen so wahrgenommen. Das Buch wurde sogleich ein Bestseller, und Defoe ließ noch im selben Jahr eine Fortsetzung folgen. Er war ein Autor, dessen kühne Modernität sich erst heute ganz erschließt. Sollte man eine Formel für ihn finden, könnte man ihn den englischsten aller englischen Schriftsteller nennen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 10.05.2016 | 09:20 Uhr

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