Stand: 17.06.2016 14:56 Uhr

Schlimmer als die Polizei erlaubt?

von Horst Meier
Horst Meier © imago
Horst Meier geht in seinen Gedanken zur Zeit der Frage nach, was politische Satire charakterisiert.

Dass Sie und ich zum Fall Böhmermann eine Meinung haben, ist wohl klar. Ich habe in den letzten Wochen niemanden getroffen, den das krude "Schmähgedicht" kalt gelassen hätte. Es polarisiert. Das ist entweder ein Machwerk und sein Urheber gehört schleunigst bestraft. Oder das ist eine satirische Raffinesse und steht unter dem Schutz der Kunst- und Meinungsfreiheit. Entweder oder, da gibt es kein Vertun! Aber Hand aufs Herz: Haben Sie den Auftritt gesehen oder später wenigstens im Internet aufgespürt? Das Werk gehört sicher nicht zum Kanon deutscher Dichtkunst. Aber was den Fall Böhmermann - oder je nach Sichtweise den Fall Erdogan - angeht, sollte man nicht allein den Wortlaut des "Schmähgedichts" kennen, sondern auch seinen Kontext. Vorsicht, Satire! Meinungs- und Kunstfreiheit sind "kontraintuitiv". Will sagen: Das spontane Urteil, dass hier einer entschieden zu weit gegangen ist, könnte danebenliegen.

Der Sachverhalt

Bevor Juristen urteilen und verurteilen, brauchen sie einen gut sortierten "Sachverhalt". Und der geht so: Am 31. März wurde das "Neo Magazin Royale" ausgestrahlt: "Willkommen zu Deutschlands Quatschsendung Nummer eins", begrüßte Jan Böhmermann seine Zuschauer. Und bot an diesem Abend die auf ZDFneo üblichen Blödeleien: meist harmlos und bügelfrei, von irrlichternder Intelligenz. Jene flotten Scherze eben, mit denen ältere Herrschaften, die mit Wolfgang Neuss oder Dieter Hildebrandt aufgewachsen sind, nicht viel anfangen können. Der Sketch, der alsbald dargeboten wurde, fiel nicht gleich mit der Tür, sprich: dem "Schmähgedicht" ins Haus, sondern bezog sich zunächst auf eine Störung der deutsch-türkischen Beziehungen. Das Satiremagazin "extra3" des NDR hatte ein Spottlied gesendet: "Erdowie, Erdowo, Erdogan". Es nahm dessen Law and Order-Programm aufs Korn - darunter die Knebelung der Pressefreiheit. Die "Machart Schülerzeitung" war betulich, mäßig witzig und fiel nicht weiter auf. Das änderte sich, als der deutsche Botschafter ins türkische Außenministerium einbestellt wurde und man verlangte, seine Regierung möge gegen das anstößige Liedchen vorgehen. Inzwischen zählt das Video an die neun Millionen Internetaufrufe.

Nach diesem Vorspiel kommt Böhmermann in Fahrt. Dem Präsidenten erklärt er, dass das Spottlied sehr milde ausfiel; und dass hierzulande die Meinungsfreiheit viel weiter reicht. Böhmermann lobt "unser tolles Grundgesetz" und lässt sich von einem Gehilfen erklären, was verbotene Schmähkritik ist: "Wenn du Leute diffamierst, wenn du einfach nur so untenrum argumentierst, ne?" - "Haben Sie das verstanden, Herr Erdogan?" fragt Böhmermann, und setzt hinzu: "... ist ein bisschen kompliziert, vielleicht erklären wir es an einem praktischen Beispiel". Also bestellt er bei der Regie den passenden Hintergrund: türkische Fahne und Erdogan-Porträt. Endlich gibt er sein "Schmähgedicht" zum Besten, mehrfach unterbrochen von Pausen und kurzen Wortwechseln: "Das darf man nicht machen?" - "Nein, unter aller Kajüte!" Am Ende wird das Publikum im Studio noch rüde ermahnt: "Nicht klatschen!" Erdogan empfehlen die Spaßvögel einen tüchtigen Anwalt. Ihre Mutmaßung, das Stück werde aus der Mediathek genommen, sollte das ZDF nicht enttäuschen.

Was dem "reichlich bescheuerten" Gedicht, so Böhmermann später im "ZEIT"-Interview, folgte, bot alles, was sich ein Satiriker nur wünschen kann: diplomatische Protestnoten, eine Strafanzeige des Präsidenten, Krisensitzungen im Kanzleramt und Schlagzeilen bis hin zur "New York Times": "Komiker demütigt türkischen Präsidenten und testet Redefreiheit in Deutschland". Seitdem zieht der Böhmermann-Erdogan-Merkel-Komplex immer neue Kreise. Unterdessen eröffnete Erdogan eine neue Front, indem er, empört über die Armenienresolution des Bundestages, Abgeordneten mit türkischen Wurzeln nachsagte, sie seien "charakterlos", sie hätten "verdorbenes Blut". Der ganze Fall ist ein Leckerbissen für Juristenklausur und Journalistenschule.

Was ist Satire?

Gut, den "Sachverhalt" haben wir; und ist der erst einmal klar, stellen Juristen die Frage aller Fragen: Wie ist die Rechtslage? Das Prüfungsschema beginnt mit dem "Schutzbereich": Fällt die dargebotene Nummer überhaupt unter die Kunst- und Meinungsfreiheit? Zweifellos. Die Frage, inwieweit der türkische Präsident, gelinde gesagt, ein gestörtes Verhältnis zur Meinungsfreiheit hat, ist eine hochpolitische Angelegenheit von öffentlichem Interesse. Und damit ein gefundenes Fressen für Satiriker.

Was aber ist Satire? Ihr sind, heißt es, Übertreibungen und Verzerrungen wesenseigen; sie gießt Spott und Häme aus. Natürlich, das sind unscharfe Formeln; trotzdem helfen sie, einer Gattung gerecht zu werden, die richtig fies werden kann. Im Fall Erdogan sagen viele indigniert, man dürfe doch einen Präsidenten nicht mit haltlosen Unterstellungen traktieren - schon gar nicht über sexuelle Praktiken oder die Beschaffenheit seiner Geschlechtsorgane. Stimmt, normalerweise nicht. Und doch ist diese Herangehensweise ein geradezu klassisches Missverständnis, denn sie verkürzt die szenisch dargebotene Satire auf ihren bloßen Wortanteil und verfehlt so das Ganze.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 19.06.2016 | 19:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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