Stand: 05.01.2016 11:29 Uhr

Herman Melville: "Moby Dick oder Der Wal"

In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Herman Melvilles "Moby Dick oder Der Wal".

Von Hanjo Kesting

Sommertheater Kiel: Volker Hanisch und Gerrit Frers in "Moby Dick" in der Uraufführung am Seefischmarkt in Kiel-Wellingdorf, Premiere am 9. Juli 2010. © struck-foto Foto: Olaf Struck
Kapitän Ahab bildet mit seiner rastlosen Jagd nach Moby Dick das Kraftzentrum des Buches

Ein Wal ist ein großer Fisch, und nur ein großer Roman vermag ihm gerecht zu werden, deswegen hat Melville seinem Buch vom weißen Wal Auszüge aus älteren Büchern vorangestellt, die auf Wal und Walfang Bezug nehmen, zurückgehend bis zum Buch Genesis der Bibel, wo es heißt: "Und Gott schuf große Walfische." Ein Buch wie "Moby Dick" braucht einen weiten und starken Resonanzboden, deswegen wird gleich zu Anfang das Senkblei in mythische Tiefen geworfen. Dann erst hebt die Stimme des Erzählers an: Ismael - so will er genannt werden, wie der erstgeborene Sohn Abrahams.

Kapitän Ahab und der weiße Wal

Unmöglich, dem großen Buch auf knappem Raum gerecht zu werden. Es muss genügen, soweit der Atem reicht, für einige Augenblicke in die Tiefe dieses Textozeans hinabzutauchen. Vor allem muss man die Protagonisten in Augenschein nehmen und sich auf ihren schrecklichen Zweikampf vorbereiten, den Zweikampf zwischen Kapitän Ahab und dem weißen Wal. Ahab hegt ein wildes Rachegefühl gegen den weißen Wal, der ihm einst ein Bein weggerissen hat. Aber erst im 36. Kapitel offenbart er der Mannschaft die Jagd auf Moby Dick als das geheime Ziel ihrer Fahrt, wenn er die Harpuniere in heidnischer Weise die Lanzen kreuzen und sie schwören lässt, Moby Dick zu Tode zu hetzen. Sein Gegenspieler, der weiße Wal, verkörpert mit Melvilles Worten "die Wunder und Schrecken Gottes". Aber "verkörpern" ist ein etwas schematisches Wort. Der englische Schriftsteller D. H. Lawrence schrieb: "Natürlich ist Moby Dick ein Symbol. Wofür? Ich bezweifle, dass Melville es selbst genau wusste. Das ist das Beste daran."

In Kenntnis des Romans fällt es schwer, sich vorzustellen, dass Ahab in Melvilles ersten Entwürfen noch nicht vorgesehen war. Denn er bildet ohne Zweifel das Kraftzentrum des Buches. Faust, Prometheus, Luzifer, auch Byronsche Helden haben diese Gestalt mitgeprägt, die den Namen eines verfluchten Königs in Israel und Baal-Götzendieners trägt. Melville ist bemüht gewesen, Ahab sowohl gottlos als auch gottähnlich erscheinen zu lassen. Er schließt einen Teufelspakt, wenn er die Golddublone an den Mast nagelt, das sonnenähnlich gleißende Sinnbild der bösen Jagd; er tauft die Harpune, die Moby Dick treffen und töten soll, mit dem Blut der heidnischen Harpuniere und spricht dazu die Worte: "Ich taufe dich nicht im Namen des Vaters, sondern im Namen des Teufels."

Wissenschaftliche Genauigkeit und Mythologie

Melville wusste, dass der Walfang, für sich genommen, einer romanhaften Behandlung widerstrebt. Deswegen ist die Kunst, mit der es ihm gelang, das walkundliche Wissen seiner Zeit in lebendigen Erzählstoff umzuschmelzen, nicht hoch genug zu bewundern. Worüber er auch schreibt, über den Kopf des Wals, seinen Schwanz oder die Fontäne, über das Abspecken oder "wie man Öl in Fässer füllt" - stets wird die Schilderung zum homerischen Gesang. Gerade die exakte Beschreibung des Wals und seiner Lebensform lässt seine elementare Natur nur umso rätselhafter erscheinen. Wissenschaftliche Genauigkeit und Mythologie scheinen einander zu bedingen. So reißt "Moby Dick" die größten und weitesten Perspektiven auf - der Leviathan der Literatur.

Buchcover: Herman Melville: Moby-Dick © Hanser Verlag
Herman Melvilles Roman "Moby Dick" erschien 1851.

Schwer vorstellbar, dass dieses gewaltige Buch, das 1851 erschien, 75 Jahre lang fast völlig vergessen war. Seit seiner Wiederentdeckung aber hat sich der Ruhm von "Moby Dick" beständig vermehrt, er gehört zu jenen Werken, die nach einer schwer erklärbaren Gesetzmäßigkeit immer weiter wachsen und prinzipiell unauslesbar sind. Was mich betrifft, habe ich "Moby Dick" immer wieder gelesen, bei jeder Lektüre aufs Neue begeistert von Melvilles Sprachkraft, und sofort eingenommen, sobald ich das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlage. Kurz, ich lese in "Moby Dick", wie frühere Generationen in den Evangelien gelesen haben. Jedes Mal stellt sich, genährt von Melvilles etwas kopflastigem Humor, eine Art höhere Heiterkeit ein, verbunden mit einer tiefen Befriedigung, die daraus erwächst, dass in diesem Buch alle Schlacken des Gewöhnlichen hinweggeläutert sind.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 18.02.2016 | 15:20 Uhr

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Romane

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