Stand: 07.11.2009 16:39 Uhr

"Wir haben das eben auf NDR 2 gehört!"

Pressekonferenz am 9. November 1989 © ullstein bild
Auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989 verkündigt Günter Schabowski, dass DDR-Bürger nun über die Grenze dürfen.

"Dass die Grenze geöffnet ist, haben wir eben im Radio gehört, auf NDR 2!", erzählen gleich mehrere DDR-Bürger den verblüfften NDR Reportern am Abend des 9.11.1989 an den DDR-Grenzübergängen im Norden beim Interview. Tatsächlich ist NDR 2 in dieser Nacht eine entscheidende Informationsquelle für viele Menschen. In Hamburg hatten die Redakteure von NDR 2 die Pressekonferenz mit SED-Politbüromitglied Günter Schabowski in Ost-Berlin gesehen, die im Fernsehen live übertragen wurde.

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Staatswappen der DDR © dpa - Report Foto: Erich Mehrl

Geplante DDR-Reiseregelung 1989

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Um 18.56 Uhr fallen Worte, die die Journalisten aufhorchen lassen: "Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich!", antwortet Schabowski auf die Nachfrage eines italienischen Journalisten.

Der damalige Club-Redakteur Volker Thormählen erinnert sich: "Wir haben das berichtet, was wir in Erfahrung bringen konnten. Irgendwann kam die Meldung, dass in Berlin Leute über die Grenze kommen. Plötzlich war klar, das entwickelt eine eigene Dynamik. Da haben wir uns natürlich gefragt: Gilt das auch für Schlutup, gilt das für Helmstedt, gilt das für Gudow?" Gemeinsam mit dem damaligen NDR 2 Wortchef Rüdiger Knott beschließt Thormählen, Reporter an die norddeutschen Grenzübergänge zu schicken.

"Es war Glück pur für viele Menschen"

NDR 2 Reporter Andreas Hilmer am 9. November 1989 beim Interview mit Augenzeugen © NDR
Andreas Hilmer fährt am 9. November zum Grenzübergang nach Helmstedt und macht dort Interviews.

NDR 2 Reporter Andreas Hilmer, damals 26, fährt sofort los Richtung Helmstedt: "Als wir ankamen, war noch nichts los. Wir hörten nur, dass auf der anderen Seite in Marienborn lange Trabbi-Schlangen sind. Wir wussten also: Es muss etwas passieren. Und dann kamen die ersten" Noch heute erinnert er sich daran, wie hochemotional diese ersten Ost-West-Begegnungen waren: "Es war Glück pur für viele Menschen. Die Leute haben teilweise geweint. Ich muss ehrlich sagen, auch ich habe eine Träne verdrückt, denn das waren beeindruckende Dinge, die die Menschen sagten. Und auch wenn sie nichts sagten ... Zu sehen, wie jemand einen Meter hinter der Grenze aussteigt aus dem Trabbi und sagt, jetzt ist er im Westen, mehr wollte er eigentlich gar nicht. Das ist doch beeindruckend!"

Im Hamburger Funkhaus sitzt inzwischen Rüdiger Knott am NDR 2 Mikrofon. Spontan hat er entschieden, eine Sondersendung zu den offenen Grenzen zu bringen. Viele Kollegen bleiben freiwillig länger und sorgen für immer neue, aktuelle Informationen aus Berlin und natürlich von den Grenzübergängen im Norden. Gegen 23.30 Uhr bekommen die NDR 2 Reporter die Initiatorin der Bürgerrechtsbewegung des Neuen Forums, Bärbel Bohley ans Telefon, kurz darauf schalten sie nach Warschau, wo Kanzler Kohl sich aufhält. Und es gelingt ihnen eine Live-Schaltung nach Ost-Berlin, wo ein Reporter mit einem drahtlosen Mikrofon inmitten von Menschen steht, die singen: "So ein Tag so wunderschön wie heute!"

Sondersendung bis in den frühen Morgen

Als ab 24 Uhr klar wird, dass eine "Wahnsinns-Nacht" beginnt, beschließen die Redakteure, die Sondersendung bis in den frühen Morgen fortzusetzen. Später schalten sich dann auch die Landesfunkhäuser Hannover und Kiel dazu. Um 2 Uhr löst Volker Thormählen seinen Kollegen Knott vor dem Mikrofon ab. Weil die NDR 2 Nacht an diesem Abend gar nicht aus Hamburg hätte gesendet werden sollen, ist irgendwann keine Musik mehr da. Damals wurde noch vom Tonband gesendet. Erst vor kurzem waren die CDs auf den Markt gekommen. Kurzerhand holt Thormählen eigene Platten aus seinem Kofferraum und spielt die besten Hits aus '89.

Immer wieder interviewt Thormählen telefonisch die Reporter an den Grenzübergängen und hört selbst ungläubig, was da los ist: "Dass sie rüber können, das haben die Leute hier aus dem Radio von NDR 2 erfahren," berichtet zum Beispiel der Reporter Reinhold Kujawa in seiner Live-Reportage aus Gudow. "Stimmt", bestätigt Oliver Behn aus Schwerin 20 Jahre später. Er erinnert sich: "Weil wir das zunächst nicht glauben konnten, haben wir von DT64 auf NDR 2 umgeschaltet, weil die uns ja nicht belügen mussten, das waren ja die auf der anderen Seite." Behn ist der erste, der an diesem Abend mit seinem Motorrad in Gudow an der Grenze ist und in den Westen darf.

Ein unvergessliches Erlebnis

Andreas Hilmer erinnert sich heute: "So langsam merkte man, hier passiert etwas Historisches, hier passiert was, was man in der Nähe und Direktheit vielleicht nicht wieder erlebt. Wir haben nicht dran gedacht zu schlafen, wir wollten nicht schlafen, wir konnten nicht schlafen, die DDR-Bürger konnten es ja auch nicht."

Und Volker Thormählen, der damals bis 5.30 Uhr am Mikrofon saß, ist noch heute tief beeindruckt: "Wir waren da nicht nur bei etwas Besonderem dabei, sondern wir haben dieses Besondere abgebildet. Und wir wussten, dass die Berichterstattung darüber, dass man jetzt in Schlutup oder Helmstedt oder Gudow rüber kann, dass das natürlich gleich die Nächsten mobilisiert, die hinterherkommen. Und so war es denn ja auch!" Rückblickend ist diese Nacht vor 20 Jahren für Volker Thormählen der historische Moment seines Lebens: "Das zu moderieren, dabei zu sein, das Menschen nahe zu bringen, ist ein unvergessliches Erlebnis!"

Dieses Thema im Programm:

NDR 2 | 09.11.1994 | 20:00 Uhr

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