Lübecker Brandanschlag 1996: Kein Nazi-Anschlag - oder doch?

Stand: 18.01.2024 05:00 Uhr

Zehn Menschen starben am 18. Januar 1996 bei einem Feuer in einem Lübecker Asylbewerberheim. Schnell war klar: Es war Brandstiftung. Doch der Fall wird nie aufgeklärt, vier verdächtige Neonazis nicht angeklagt.

von Oliver Diedrich, NDR.de

Wo sich heute an der Ecke Hafenstraße/Konstinstraße in Lübeck eine freie Fläche befindet, steht in den 1990er-Jahren ein großes Haus. Asylbewerber wohnen darin. Vor allem Afrikaner, die vor den Kriegen in ihren Heimatländern geflüchtet sind. "Sie waren nach Deutschland gekommen, um hier Schutz zu finden", steht auf einem mannshohen grauen Stein auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er soll an die Nacht mahnen, in der zehn von ihnen sterben.

Tief in der Nacht bricht das Feuer aus

In dieser Nacht auf den 18. Januar 1996 befinden sich 48 Menschen in dem dreistöckigen Gebäude. Fast alle schlafen, als um kurz nach 3 Uhr jemand "Feuer!" ruft. Die Flammen breiten sich rasch aus. Hitze, Rauch, Schreie. Entsetzliche Szenen spielen sich ab. Im Eingangsbereich des Hauses stirbt der erste Bewohner. Eine 32-Jährige aus dem Haus alarmiert per Telefon die Feuerwehr. Kurz darauf ersticken sie und ihr fünfjähriger Sohn. Andere klettern in Panik aufs Dach oder springen aus den Fenstern.

Das Leiterfahrzeug der Feuerwehr kippt um

Gegen 3.45 Uhr erreicht die Feuerwehr das brennende Haus. Im zweiten Stock stehen noch Kinder am Fenster - doch das Leiterfahrzeug der Retter kippt um. Die Kinder sind verloren. Weitere Menschen sterben beim Versuch, sich aus dem Gebäude zu retten. Andere ersticken. In einer dramatischen Rettungsaktion kann die Feuerwehr schließlich die Überlebenden vom Dach holen. Viele sind schwer verletzt.

Festgenommene Neonazis kommen wieder frei

Am Vormittag nach dem Feuer gibt die Polizei bekannt: Es war wohl Brandstiftung. Und vier Verdächtige seien bereits gefasst worden. Die jungen Männer aus Mecklenburg-Vorpommern seien in der Nähe des Brandortes gewesen. Sofort spekulieren Beobachter: Es war ein rechtsradikaler Anschlag. Dabei ist der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt, dass die Festgenommenen tatsächlich zur rechten Skinhead-Szene gehören. Innerhalb von Stunden rollt in Lübeck ein internationaler Medien-Tross an: Die Rede ist vom schlimmsten rassistischen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik. In Hamburg und Lübeck demonstrieren 36 Stunden nach dem Ausbruch des Feuers bereits Hunderte Menschen gegen Gewalt und Rassismus.

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Brennende Flüchtlingsunterkunft in Lübeck (Aufnahme vom 18.Januar1996) © dpa - Bildfunk Foto: Wolfgang Langenstrassen

Die Brandnacht

Im Januar 1996 steht in Lübeck ein Asylbewerberheim in Flammen. Die Reporter nehmen den Fall noch einmal auf. mehr

Doch am Mittag des 19. Januar teilt die Lübecker Polizei mit, dass die aus Grevesmühlen stammenden verdächtigen Neonazis freigelassen wurden: "Die Entscheidung beruht nicht nur auf der Einlassung der vorläufig festgenommenen Personen, sondern auch auf objektiven Beweiserhebungen."

Zündete ein Bewohner das Haus an?

Die Polizei verfolgt zu diesem Zeitpunkt schon eine ganz andere Spur. Beamte nehmen Safwan E. und zwei seiner Brüder fest. Die Libanesen wohnten selbst in der Asylunterkunft. Der 21-jährige Safwan soll einem Sanitäter im Verlauf der Rettungsarbeiten gesagt haben: "Wir waren es." Gegen ihn ergeht Haftbefehl wegen des Verdachts des zehnfachen Mordes und der besonders schweren Brandstiftung. Safwan E. soll das Feuer wegen eines Streits mit anderen Bewohnern gelegt haben.

Nun braust ein Sturm der Entrüstung durchs Land: Dass der Brand ein Neonazi-Anschlag war, klang doch so einleuchtend. Wollen die Behörden nun etwa das Opfer zum Täter machen? Im September 1996 beginnt ein äußerst umstrittener Prozess.

Gericht kann das Wie, Wann und Wo nicht aufklären

Doch es gibt wieder eine Wende: Am 30. Juni 1997 spricht das Landgericht Lübeck Safwan E. aus Mangel an Beweisen frei. Es gibt kein klares Motiv. Und nicht einmal die Fragen, wie, wann und wo genau das Feuer ausbrach, können die Richter klären. Allerdings steht E. in dem Prozess nicht immer gut da. Und offensichtlich sind einige Hausbewohner beeinflusst worden, zu seinen Gunsten auszusagen.

Ein halbes Jahr nach Prozess-Ende wird die Brandruine in Lübeck abgerissen. Und dann kommen plötzlich unerwartete Neuigkeiten.

Spätes Geständnis

Am 23. Februar 1997 macht der 20-jährige Maik W. im Gefängnis von Neustrelitz eine Aussage. Der junge Mann sitzt dort wegen eines Diebstahles. W. sagt in etwa: "Wir waren das - in Lübeck." Er meint genau die Clique aus Grevesmühlen, die die Polizei sofort nach der Tat im Verdacht hatte. Damals waren sie rasch wieder freigekommen, weil sie ein Alibi hatten. Polizeibeamte hatten sie - wie sich am Tag nach dem Feuer herausstellte - an einer kilometerweit vom Brandort entfernten Tankstelle gesehen - exakt zu dem Zeitpunkt, der zunächst als Tatzeit galt. Also konnten sie wohl nicht das Feuer gelegt haben. Dass drei von ihnen Brandspuren am Körper hatten, erklärten die jungen Männer den Ermittlern damit, einer habe einen Hund angezündet, einer ein Feuerzeug an einen Mofa-Tank gehalten und einer sich an einem Kohleofen verbrannt - also waren sie damals freigelassen worden.

Und nun behauptet dieser junge Mann im Gefängnis sogar, sie hätten von einem Unbekannten mehrere Tausend Mark erhalten für die Brandstiftung in der Hafenstraße. In der Öffentlichkeit heißt es jetzt vielfach: "Unfassbar!" Und: "Klar, haben wir doch gleich gewusst - es waren die Nazis."

Und noch ein Geständnis

Doch so plausibel für viele die Story klingt, dass die Polizei auf dem rechten Auge blind gewesen sein könnte - es kommt wieder anders: Maik W. widerruft sein Geständnis nach einigen Tagen. Die Ermittlungen gegen die Grevesmühlener werden erneut eingestellt. Offensichtlich sind W.s Aussagen wirr. Ein paar Monate später führt "Der Spiegel" ein Interview mit ihm. Maik W. bezichtigt sich und seine Kumpels erneut. Auf die Frage, warum er das Geständnis zuvor widerrufen habe, antwortet er, die Polizei habe ihm doch einfach nicht glauben wollen.

Will Maik W. nur den harten Kerl markieren?

Danach wiederholt W. noch einige Male, dass er mit seiner Clique den Brand gelegt habe. Aus Rache wegen Drogen-Streitigkeiten mit Leuten aus dem Asylbewerberheim, wie er sagt. Aber er behauptet auch ein paar Mal das Gegenteil. Und schließlich lassen ihm seine früheren Kumpels sogar gerichtlich verbieten, weiter solche Anschuldigungen zu erheben. Die Justiz hält die Aussagen des Neonazis für komplett unglaubwürdig. Später wird bekannt, das W. in der Haft wohl von Mitgefangenen misshandelt und sexuell genötigt wurde. Will er mit dem Geständnis den harten Kerl markieren, um sich gegen solche Angriffe zu schützen?

Wiederaufnahme der Ermittlungen abgelehnt

1999 wird Safwan E. in einem zweiten Prozess, der wegen Verfahrensfehlern im ersten Durchgang nötig wurde, erneut freigesprochen. Ende 2011 gibt es noch einmal eine Initiative linker Gruppen für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen. Im Lübecker Rathaus unterzeichnen unter dem Eindruck der bekannt gewordenen Mordserie des NSU 200 Bürger einen entsprechenden Aufruf. Doch Anfang 2012 teilt der damalige Justizminister Emil Schmalfuß mit: "Es gibt auch nach der Aufdeckung der Morde durch das Zwickauer Neonazi-Trio bislang keine neuen Erkenntnisse, die eine Aufnahme von Vorermittlungen oder gar Ermittlungen rechtfertigen würden."

So wie es aussieht, werden der oder die Täter nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. "Je länger der Brand zurückliegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er aufgeklärt wird", sagt Heinrich Wille vor einigen Jahren anlässlich der Buch-Erscheinung "Der Lübecker 'Brandanschlag'". Darin beschreibt Wille, 1996 Leitender Lübecker Oberstaatsanwalt, den Fall aus seiner Perspektive. "In den vielen Jahren hat es keine neuen Tatsachen und keine neuen Beweismittel gegeben." Geändert hat sich daran bis heute nichts.

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Schleswig-Holstein Magazin | 17.01.2021 | 19:30 Uhr

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