Das Unglücksrad von Eschede

Stand: 03.06.2023 05:00 Uhr

In den 1990er-Jahren will die Bahn den Komfort für ihre Fahrgäste mit Gummi-gefederten Reifen verbessern. Doch die erhöhen das Risiko, dass ein Radreifen bricht. Ein Umstand, der 1998 beim Zugunglück in Eschede in die Katastrophe führt.

Im Jahre 1991, also sieben Jahre vor dem Zugunglück in Eschede, nimmt alles seinen Anfang. Der ICE 1 nimmt seinen Betrieb auf. Bahn-Vorstandsmitglied Roland Heinisch beschwert sich nach einer Fahrt im neuen Hochgeschwindigkeitszug beim damaligen Vorstandsvorsitzenden Heinz Dürr über ein unangenehmes Dröhnen und Scheppern während der Fahrt. Heinisch zeigt sich besorgt - und das nicht nur wegen des Fahrkomforts. Es könnten Bauteile und Befestigungen im Wagen Schaden nehmen, befürchtet er. Zudem sei mit negativen Reaktionen von Kunden zu rechnen. Also müsse schnell Abhilfe geschaffen werden.

Vollräder bringen unangenehme Folgen mit sich

Die erste ICE-Generation der Bundesbahn fährt zu Beginn auf Vollrädern. Doch unter großen Belastungen können sich die Stahlräder verformen, sodass eine Unwucht entsteht. Das Bundesbahn-Zentralamt in Minden weiß über die daraus resultierenden Probleme bereits Bescheid: Bei hoher Geschwindigkeit sorgt schon eine minimale Unwucht für Schwingungen, die dann die Erschütterungen und das unangenehme Dröhnen verursachen. Vor allem in den Speisewagen des Intercity-Express ist das Problem hörbar: Dort klirren die Gläser und scheppert das Geschirr.

Neue Entwicklung: Gummi für den Fahrkomfort

Mit gummigefederten Rädern will die Bahn das Problem schnell beseitigen. Im Gegensatz zu den Vollrädern, die komplett aus Stahl bestehen, gliedern sich die gummigefederten Räder in drei Komponenten, die unter großer Hitze zusammengepresst werden: Radscheibe, Radreifen und dazwischen eine 20 Millimeter starke Gummi-Einlage. Nach erfolgreichen Testfahrten rüstet die Bahn nach und nach die ICE-Waggons um - zuerst die Speisewagen, dann auch die anderen Waggons.

Keiner entdeckt den Riss im Radreifen

Beschlagnahmte Radachsen und Drehgestelle von ICE-Waggons des Unglückszuges von Eschede werden im Januar 2002 in einer Halle einer Kaserne in Celle auf einen Tieflader gehoben. © dpa - Fotoreport Foto: Holger Hollemann
Die Radachsen und Drehgestelle von ICE-Waggons des Unglückszuges wurden beschlagnahmt.

Während so auf der einen Seite der Fahrkomfort für die Fahrgäste verbessert wird, weil die Züge auf den neuen Rädern viel ruhiger laufen, erhöht sich auf der anderen Seite das Risiko eines Radreifenbruchs. Wie sich später im Strafprozess gegen drei Ingenieure herausstellt, hatte es bei der Prüfung und Kontrolle der Reifen Versäumnisse und Unregelmäßigkeiten gegeben. Bevor der Radreifen des Unglückszuges brach und ihn zum Entgleisen brachte, hatte sich ein Riss gebildet. Dieser Riss war gar nicht erst entdeckt worden.

VIDEO: Rekonstruktion des Zug-Unglücks (1 Min)

Kurz nach dem Unglück von Eschede mit 101 Toten und mehr als 100 Verletzten tauscht die Bahn alle gummigefederten Räder wieder durch Vollräder aus. Die Räder mit der Gummieinlage kommen danach nicht wieder zum Einsatz. Bei den folgenden ICE-Typen setzt die Bahn auf eine andere Art der Federung: Die weiteren Baureihen werden mit luftgefederten Drehgestellen ausgerüstet, um die für den Fahrkomfort wichtige Laufruhe zu garantieren.

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NDR Info | 02.06.2023 | 14:00 Uhr

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