Stand: 22.03.2017 06:00 Uhr

"Gerechtigkeit": Kampfbegriff mit Konjunktur

von Aimen Abdulaziz-Said

Wie ist es um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland bestellt? Wenn es nach dem SPD-Vorsitzenden und -Kanzlerkandidaten Martin Schulz geht, fällt die Antwort auf diese Frage eindeutig aus: schlecht. "Die Menschen, mit denen ich rede - und das sind ja Leute quer durch alle Bevölkerungsschichten - sagen, das stimmt", erklärte Schulz am vergangenen Sonntag in der ARD-Sendung "Farbe bekennen". Er würde das Land bestimmt nicht bewusst schlecht reden, wie einige Kritiker es ihm vorwerfen. "Dieses Gerechtigkeitsdefizit, das die Leute empfinden, das ist nicht etwas, was ich erfinde. Das ist da."

Medien uneinig über soziale Lage im Land

Martin Schulz © Will Media Foto: Wolfgang Borrs
Eine klare Sache? Martin Schulz kritisiert das soziale Gefälle in Deutschland.

Über die Frage, wie gerecht es in Deutschland zugeht, wird auch in den Medien gestritten. Bereits im Dezember, also noch bevor klar war, dass Schulz als SPD-Kanzlerkandidat antreten würde, titelte der Stern: "Die Lüge von der Gerechtigkeit. Wie die wachsende Ungleichheit unser Land spaltet." Und die Berliner Zeitung stellte nüchtern fest: "Die Ungleichheit nimmt wieder zu." 

Bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schätzte man die Lage dagegen ganz anders ein. Schulz verspreche, das Land von der Ungleichheit zu lösen, heißt es dort. "Dabei geht es den Deutschen so gut wie nie." Und auch die Welt kommt zu dem Ergebnis: "Nie zuvor ist es der Mehrheit der Deutschen so gut gegangen." Die Berichterstattung zu Themen wie Armut und soziale Gerechtigkeit lässt den Leser bisweilen ratlos zurück. Aber wie ist es möglich, dass Zeitungen zu solch unterschiedlichen Einschätzungen gelangen?

Journalisten sollen Datenbasis offenlegen

Laut Professor Henrik Müller von der Technischen Universität Dortmund liegt das vor allem an den Indikatoren, die die Journalisten für ihre Bewertungen heranziehen (siehe Linkliste). Je nachdem welche man auswähle, könne man zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Wichtig sei es, dass Journalisten ihre Datenbasis offenlegen, damit ihre Schlussfolgerungen für den Leser nachvollziehbar sind.

Professor Henrik Müller von der Technischen Universität Dortmund. © NDR
Für Prof. Henrik Müller von der TU Dortmund ist das Urteil abhängig von der Haltung der Journalisten.

Ein weiterer Grund für die unterschiedlichen Ergebnisse ist laut Müller, dass Zeitungen ideologisch unterschiedlich ausgerichtet sind. "Die traditionellen, wirtschaftsliberalen Zeitungen, genauso wie wirtschaftsliberale Ökonomen vernachlässigen eher Verteilungsfragen und sind eher geneigt, diese runterzuspielen", sagt Müller. "Wohingegen Sie es bei eher linken Medien damit zu tun haben, dass sie eher dramatisiert werden. Das war schon immer so." Mehr Differenzierung sei notwendig.

Studien werden unhinterfragt übernommen

Das findet auch Irina Kummert vom Ethikverband der Deutschen Wirtschaft. Die deutschen Medien ließen sich bei Themen wie Armut zu sehr von Studien treiben, beklagt Kummert. Diese würde von den Journalisten kaum hinterfragt werden, dabei stünden hinter den Studien ebenfalls Akteure mit politischen Interessen. Mache Untersuchungen seien von vornherein so angelegt, dass auf jeden Fall ein Notstand herauskommt. "Dieses Eigeninteresse wird oft nicht thematisiert", kritisiert auch Prof. Müller. "Journalisten sind aufgefordert, die Eigeninteressen der verschiedenen Akteure mit einzukalkulieren und entsprechend vorsichtig mit den Studien umzugehen."

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ZAPP | 22.03.2017 | 23:20 Uhr