Stand: 30.01.2015 13:26 Uhr

Krisengeschüttelt - Der NDR in den 1970er-Jahren

Die parteipolitischen Querelen, die den NDR in den 70er-Jahren erschütterten, prägten auch die Fernseharbeit des Senders. Wiederholt entzündete sich Streit an der journalistischen Berichterstattung. Die schon erwähnten Themen "Brokdorf" und Anti-Atombewegung waren dabei nur eine Facette. Immer wieder wurden neue gesellschaftliche Probleme aufgegriffen und meinungsfreudig zur Diskussion gestellt. Dabei sorgte nicht allein das Flaggschiff "Panorama" für Schlagzeilen, sondern auch viele engagierte Sendungen im fiktionalen und dokumentarischen Bereich erregten Aufmerksamkeit. Einige Beispiele demonstrieren dies:

"Recht für Reiche"?

Seit ihrer Gründung Anfang der 1960er Jahre setzte die "Panorama"-Redaktion regelmäßig politische Diskussionen in Gang. Dazu gehörte auch die Sendung vom 18. Januar 1971, die nicht nur einen langwierigen Rechtsstreit, sondern auch eine Debatte um die Freiheit der Medien und um ein sogenanntes "Recht für Reiche" auslöste, wie der "Spiegel" kommentierte. In der "Panorama"-Ausgabe war es um den Münchner Bankier und Milliardär August von Finck senior gegangen und um undurchsichtige Grundstücks-Transaktionen im Zuge der Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg.

Skandal um Abtreibung

Mitte der siebziger Jahre sorgte eine "Panorama"-Sendung zum Thema Abtreibung für Aufruhr. Paragraph 218 des Strafgesetzbuches stellte zu der Zeit Abtreibungen in der Bundesrepublik unter Strafe. Im März 1974 wollte die "Panorama"-Redaktion Filmaufnahmen einer Abtreibung senden, für die sich Ärzte zwei Tage zuvor in West-Berlin versammelt hatten.

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Frauen demonstrieren gegen den § 218 © dpa - Bildarchiv Foto: KNA
10 Min

Aufruhr um einen Panorama-Beitrag zum Thema Abtreibung.

Im März 1974 wollte die "Panorama"-Redaktion Filmaufnahmen einer Abtreibung senden. Schon im Vorfeld wurde Protest laut, der Beitrag wurde nicht gesendet. Stellungnahmen aus der Programmredaktion. 10 Min

Bereits die öffentliche Ankündigung eines solchen Beitrags wurde als Protest gegen den Abtreibungsparagrafen verstanden. Schon im Vorfeld wurde daher Kritik laut, insbesondere in kirchlichen Kreisen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Julius Kardinal Döpfner, forderte, "diesen Film nicht zuzulassen". Tatsächlich wurde der Beitrag abgesetzt, was die Debatte jedoch keineswegs verstummen ließ.

Die zweite Organklage

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NDR Intendant klagt gegen seinen eigenen Verwaltungsrat

CDU-Mehrheit verfügte Absetzung eines Fernsehkurses über die Arbeit von Betriebsräten. (Frankfurter Rundschau vom 21.4.1977) Download (179 KB)

Auch über "Panorama" hinaus zeigte sich das NDR Fernsehprogramm dieser Jahre als sozialkritisch und politisch profiliert, etwa mit der von NDR und WDR ins Leben gerufenen Kurs-Reihe "Der Betriebsrat". Sie behandelte Themen aus der Arbeitswelt und zur Mitbestimmung sowie soziale Fragen. Der NDR Verwaltungsrat ließ mit der Mehrheit der Unionsvertreter die Berichte und Features dieser Reihe zwar für staatsvertragswidrig erklären - was den Intendanten Martin Neuffer zu einer weiteren Organklage veranlasste -, dennoch wurde die Reihe ausgestrahlt.

Lieselotte Pulver mit Samson und Tiffy © NDR/Debertin
Schauspielerin Lieselotte Pulver mit den "Sesamstraße"-Figuren Samson und Tiffy (1978).

Selbst die Einführung der "Sesamstraße" als bildendes Fernsehprogramm für Kinder muss vor dem Hintergrund der lebhaften gesellschaftlichen Diskussionen der damaligen Zeit gesehen werden. Ausgehend von unterschiedlichen pädagogischen Konzepten wurde heftig um die Übernahme bzw. Adaption der "Sesame Street", einer US-amerikanischen Reihe für Vorschulkinder, gerungen. Im April 1971 wurden im dritten Programm des NDR fünf Folgen der Sendereihe in der Originalfassung ausgestrahlt und über neue soziale Lernziele diskutiert, bevor die Reihe am 8. Januar 1973 mit Hilfe des NDR in fast allen dritten Programmen der ARD an den Start ging.

Keine Traumfabrikanten

Fernsehspiel von Dieter Meichsner und Rolf Hädrich, Regie: Rolf Hädrich am (27.11.1969) vom NDR in der ARD. Der Film erzählt die Geschichte eines Professors, der die Freie Universität verlässt. Der Verlauf dieser Geschichte legt gewisse Mechanismen der studentischen "Bewegung" bloss. © NDR
Szene aus dem Fernsehspiel "Alma Mater" (1969) von Dieter Meichsner und Rolf Hädrich.

Ein besonderes Aushängeschild des NDR in den 1970er Jahren wurde schließlich das Fernsehspiel. Dieter Meichsner, seit 1968 Hauptabteilungsleiter Fernsehspiel, brachte mit seiner dokumentarischen Produktion "Alma Mater" 1969 die linke Studentenbewegung gegen sich auf. Gleichwohl stand er für ein "gesellschaftskritisches Fernsehspiel", für das er 1972 die Parole ausgab: "Wenn wir Fernsehspielleute uns Allüren von Traumfabrikanten zulegten, gehörten wir davongejagt".

Aufklärung tut not

Zur Riege dieser "Nicht-Traumfabrikanten" gehörten so unterschiedliche Autoren wie Robert Stromberger, Dieter Wedel oder Horst Königstein, die mit ihrem künstlerischen und politischen Selbstverständnis das NDR Programm dieser Jahre entscheidend mitprägten. Man wollte keine Illusionen schaffen, sondern Aufklärung leisten.

So erzählte Robert Stromberger mit der Familienserie "PS" zwar "Geschichten ums Auto", aber auch um Versicherungsbetrug und Arbeitsplatzschikanen. Ein ähnliches Beispiel war der Dreiteiler "Einmal im Leben – Geschichte eines Eigenheims", mit dem Dieter Wedel 1972 seinen Durchbruch hatte. Viele bundesrepublikanische Familien erkannten sich in der fiktiven Familie Semmeling und ihren Problemen als deutsche "Häuslebauer" wieder, Dauerclinch mit Handwerkern inklusive. Sogar die Gerichte wurden wegen Verunglimpfung des deutschen Handwerks bemüht.

Für künstlerisch anregende Leistungen sorgte eine ganze Reihe von engagierten und mitunter politisch streitbaren Fernsehmachern, darunter Egon Monk und Rolf Hädrich. Deren Literaturverfilmungen – wie etwa "Bauern, Bonzen, Bomben", "Das Fischkonzert" und "Der Stechlin" – sind aus der Fernsehspielgeschichte nicht wegzudenken.

Einblicke in fremde Lebenswelten

Dokumentarische Sendungen wie "Die Woche hat 57 Tage – Protokoll eines Ausbruchs" - ein Film über die Machenschaften im Zeitungswesen - von Christian Geißler oder seine "Sozialreports" über "Ein Jahr Knast" und "Arbeiterinnen unter 18" schilderten die Lebenswelt der sozial Benachteiligten. Zeitgebunden wie diese sozialkritischen Filme ist auch ein berühmter Bericht über "die Schönen und die Reichen", den Helmuth Weiland und István Bury 1972 drehten. Dokumentiert wurde darin die Glamourwelt der Sylt-Schickeria um Brigitte Bardot und Gunter Sachs.

Filmszene aus der Beatles-Dokumentation "Ringo und die Stadt am Ende des Regenbogens" © NDR Foto: W. Klemm
Horst Königstein (links) mit Ringo Starr (rechts) in der Doku "Ringo und die Stadt am Ende des Regenbogens".

Bemerkenswert sind schließlich die ersten Arbeiten von Horst Königstein, der mit "Sympathy for the devil" eine Sendereihe für Jugendliche entwickelte. Legendär wurde die Folge "Ringo und die Stadt am Ende des Regenbogens". Königstein versuchte sich mit den Reihen "Fernsehen über Fernsehen" und "Fernsehauge" auch an einer emanzipatorischen Medienpädagogik. Vor allem aber holte er, der mit Udo Lindenberg und Peter Gabriel zusammenarbeitete, die Welt des Pop und der Musik in den NDR.

Einsatz im Norden: Der NDR"Tatort"

Politisch vergleichsweise unaufgeregt kam schließlich eine Krimireihe daher, die zu Beginn des Jahrzehnts an den Start ging – der "Tatort". Der NDR hatte gleich in mehrfacher Hinsicht Anteil an der raschen Erfolgsgeschichte. Er schickte mit Paul Trimmel, verkörpert von Schauspieler Walter Richter, den ersten "Tatort"-Kommissar auf Verbrecherjagd. "Taxi nach Leipzig" lautete der Titel der Auftakt"-Folge, die am 29. November 1970 ausgestrahlt wurde.