Stand: 10.11.2017 17:00 Uhr

Pharmaverband erwartet Entschädigung für Opfer von Schleswiger Medikamentenversuchen

Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) hat die Medikamentenversuche am ehemaligen Landeskrankenhaus Schleswig in den 50er bis 70er Jahren scharf verurteilt. Von den damals beteiligten Pharma-Unternehmen erwartet der Verband nun eine Entschädigungszahlung für die Betroffenen. 

Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Arzneimittelherstellerverbands, Hermann Kortland, nannte die Versuche im NDR Schleswig-Holstein nach heutigen Maßstäben "eindeutig rechtswidrig" und "moralisch nicht zu vertreten". Auf eine mögliche Wiedergutmachung angesprochen, sagte Kortland: "Dass sie [die Unternehmen] da einer Entschädigung nicht zustimmen, das kann ich mir nicht vorstellen."

Nach Recherchen des NDR Schleswig-Holstein wurden zwischen 1953 und 1977 in mindestens 40 Versuchsreihen Psychopharmaka und Neuroleptika in Schleswig getestet - und zwar auch an nicht einwilligungsfähigen Kindern und Jugendlichen sowie geistig Behinderten. Die Präparate wurden teilweise vor Markteinführung getestet und stammten von großen Pharma-Unternehmen in Deutschland, darunter Merck, Bayer und Janssen sowie Roche und Novartis, beziehungsweise von deren Vorgänger-Unternehmen. Einige Präparate riefen damaligen ärztlichen Aufsätzen zufolge schwere Nebenwirkungen hervor.

Nach möglichen Entschädigungszahlungen gefragt, reagierten die Pharma-Unternehmen, deren Präparate in Schleswig getestet wurden, abweisend. So sieht die Firma Janssen-Cilag "keinen Hinweis darauf", selbst Auftraggeber von Studien gewesen zu sein. Dabei hatte das Unternehmen eine Versuchsreihe in Schleswig bei einer früheren Anfrage des NDR als "Grundlage der Zulassung" für das Neuroleptikum Imap (Wirkstoff: Fluspirilene) bezeichnet. Roche teilte mit, die Frage nach Entschädigung sei "spekulativ", weil dem Unternehmen keine Studien bekannt seien, für die es "ursächlich verantwortlich" sei. Der Merck-Konzern antwortete, die Frage nach Entschädigung stelle sich nicht, weil das Unternehmen nach eigener Kenntnis nicht rechtswidrig gehandelt habe. Novartis sieht die Verantwortung für die Schleswiger Studien in der "Verantwortung der Prüfärzte". Und vom Bayer-Konzern, dessen Medikamente in Schleswig besonders häufig getestet wurden, gab es bislang keine konkrete Antwort auf die Frage nach Entschädigung.

Dass es eine direkte Zusammenarbeit zwischen den Pharmakonzernen und den Schleswiger Ärzten gegeben hatte, belegen zahlreiche ärztliche Aufsätze von damals. So bedankt sich einer der Ärzte bei Bayer und den Ciba-Werken (eines der Vorgänger-Unternehmen von Novartis) im Jahr 1958 für "die großzügige Überlassung von Versuchsmengen". In einer anderen Studie bedankt sich der gleiche Arzt allgemein bei der Pharma-Industrie für die Gelegenheit, "dieses oder jenes Medikament kritisch zu erproben". Ein weiterer Arzt veröffentlicht gemeinsam mit "dem Ressort Medizin der Bayer AG Wuppertal" im Jahr 1977 eine Forschungsstudie.

Zu den Medikamentenversuchen hat ein Autorenteam des NDR mehr als ein Jahr lang recherchiert und dafür ärztliche Aufsätze ausgewertet, mit Betroffenen gesprochen und Politik sowie Pharmakonzerne mit den Ergebnissen konfrontiert.

NDR.de/sh veröffentlicht ab Freitag, 10. November, online eine Multimediastory über die Medikamentenversuche in Schleswig.

NDR 1 Welle Nord sendet am Sonntag, 12. November, ab 18.00 Uhr in der Sendung "Zur Sache" ein 30-minütiges Feature mit anschließender Diskussion.

NDR Info wiederholt das Feature am kommenden Montag, 13. November, um 20.30 Uhr in der Sendung "Das Forum".

Und das NDR Fernsehen strahlt am kommenden Montag, 13. November, um 22.45 Uhr die 30-minütige Dokumentation "Vergessene Seelen. Wie Kinder zu Versuchsobjekten wurden" aus. Für Rezensionen und Programmhinweise liegt die Sendung im digitalen Presse-Vorführraum des NDR bereit.

10. November 2017

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