In einem Holzraster liegen Buchstabenwuerfel mit dem Schriftzug Schubladendenken. © picture alliance / ZB Foto: Sascha Steinach

Kolumne: "Die Sache mit den Schubladen"

Stand: 05.05.2024 07:30 Uhr

Die Kolumnistin hat Kopfkino: Soll sie den "prolligen" Gasableser in die Wohnung lassen? Beim Kaffeetrinken erweist er sich als Sympath. Pastorin Susanne Richter macht sich über gemeine Vorurteile Gedanken.

von Pastorin Susanne Richter

Ein Blick genügt: Er ist ein Prolet, bestimmt mit Hang zum rechtsradikalen Milieu, vielleicht auch in die kriminelle Szene. Ich kenn Leute, die so aussehen wie er. Seine Klamotten, der Haarschnitt, und selbst der Gesichtsausdruck. Meine unterste Schublade geht blitzschnell auf und wieder zu. Aber nun er steht vor meiner Tür und möchte das Gas ablesen. Einen kurzen Moment überlege ich tatsächlich, ob ich ihn mit einer Ausrede wegschicken soll und lasse ihn dann doch rein. Komm, Susanne, steigere dich nicht rein. Wird schon gehen!

"Die Demokratie ist so wichtig"

"Ich mache uns erstmal einen Kaffee", beschließe ich. Er guckt erstaunt: "Ich mache erstmal meine Arbeit. Aber dann gerne." Einige Zeit später stehen wir mit Kaffeetassen in der Küche. Als sich die Gelegenheit im Smalltalk ergibt, mache ich einen Spruch, wie wenig ich von rechtsradikaler Gesinnung halte. Ein kleiner Testballon. Wieder guckt er ähnlich erstaunt wie vorhin: "Ist doch klar: Wenn Leute solche Parteien wählen. Das geht gar nicht. Die Demokratie ist so wichtig. Wissen Sie, Frau Richter: Ich habe große Angst, dass es auch bei uns einen Krieg geben könnte."

Menschen nicht in Schubladen stecken

Ich schäme mich. Nicht nur, dass ich ihn so falsch eingeschätzt habe. Dass ich mir überhaupt so schnell Bilder von Menschen mache. Egal in welche Richtung. Solche Vorurteile sind echt Mist. Ich mag das auch nicht, wenn man mich in Schubladen steckt. "Hübsches Kleid. Siehst gar nicht aus wie eine Pastorin." Hat neulich jemand zu mir gesagt. Danke fürs Kompliment, hab ich geantwortet und mich dann geärgert. Wie soll denn eine Pastorin schon aussehen? Hab ganz normale Jeans und Turnschuhe an. Aber wenn ich tatsächlich so aussehe, wie man sich eine Pastorin vorstellt, was gibt es dann noch alles als Beigabe in der Vorurteils-Schublade?

"Die Welt ist nicht schwarz-weiß"

Susanne Richter © Kirche im NDR Foto: Christine Raczka
"Jedes Geschöpf Gottes ist es wert, dass man es kennenlernt", sagt Radiopastorin Susanne Richter.

Und was denkt wohl der Gasableser über mich, während er seinen Kaffee trinkt? "Gerade hab ich mein Enkelkind in der Kirche taufen lassen", sagt er in diesem Moment. Echt wahr! Das sagt er wirklich! Und das ist für mich so ein Klischeebruch, dass ich überlege, ob er mich jetzt veralbert, ob meine Jeans doch nach Pastorin aussieht, oder ob hier "Vorsicht-Kamera" im Spiel sein könnte.

Meine Erkenntnis des Tages auf jeden Fall: Ich kenne "solche Typen" eben nicht! Ich hoffe, ich selbst bin auch nicht einfach "so ein Typ"! Vorurteile müssen überprüft werden: Jedes Geschöpf Gottes ist es wert, dass man es kennenlernt. Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Bevor ich mir ein festes Bild mache, werde ich in Zukunft immer erst einen Kaffee zusammen trinken.

Kreuz, Herz oder Anker? So heißt die Kolumne der Kirche im NDR. Regelmäßig vergeben die Radiopastoren und Redakteure ein Kreuz für Glauben, ein Herz für die Liebe oder einen Anker für das, was hoffen lässt.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | 05.05.2024 | 07:30 Uhr

Ein Herz, Kreuz und Anker aus Silber vor blauem Hintergrund © Kirche im NDR Foto: Christine Raczka

Kreuz - Herz - Anker

Kreuz, Herz oder Anker? So heißt die Kolumne der Kirche im NDR. Regelmäßig vergeben unsere Autoren ein Kreuz für Glauben, ein Herz für Liebe oder einen Anker für Hoffnung. mehr

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