Sendedatum: 05.09.2010 17:40 Uhr

Ein Hemd des 20. Jahrhunderts

von Sigrid Brinkmann

Übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Vorgestellt von Sigrid Brinkmann

Die Verrisse seines Romans, der 1996 unter dem Titel "Selbst" erschien, scheinen den kanadischen Autor Yann Martel noch immer zu schmerzen; denn obwohl Martels nachfolgender Roman "Schiffbruch mit Tiger" 2002 ein internationaler Bestseller wurde und er dafür den hoch begehrten Man Booker Prize for Fiction erhielt, beginnt Martel sein neues Buch mit den Nöten eines polyglotten Schriftstellers, der nach einem grandiosen Bucherfolg von seinem Verlag gegängelt wird und sich in der Folge aus der Welt zurück zieht an einen nicht näher definierten Ort, in ein nicht genanntes Land. Der Mann will, dass man ihn vergisst.

Eine folgenreiche Begegnung, die zutiefst beunruhigt

Man muss die Langatmigkeit, mit der Yann Martel seinen Ich-Erzähler, den Schriftsteller Henry, über die Kunst als "Rettungsring der Historie" und die Freude als Wurzel aller Kunst dozieren lässt, über 30 Seiten hinweg ertragen. Dann aber ist das Terrain bereitet für die folgenreiche, zutiefst beunruhigende Begegnung mit einem unbekannten Leser, der Henrys Hilfe erbittet. Henry selbst ist an dem Vorhaben gescheitert, von der Auslöschung der europäischen Juden in sprachlich und formal neuer Weise zu erzählen. Der Unbekannte erregt das Interesse des erfahrenen Autors durch die Zusendung von Gustave Flauberts Erzählung "Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien". Im Kern birgt die Erzählung alles, was das Thema des Romans ausmacht: Es geht um Menschen, die mitfühlend und mörderisch zugleich sind und um das Streben nach Erlösung ohne Reue, sowie um die Suche nach Sätzen, die unermessliches Leid passend ausdrücken. Sankt Julian hat jedes Tier, das ihm unterkam, getötet. Und der unbekannte Leser entpuppt sich als alter Tierpräparator, der in einem berstend vollen Laden seinem Handwerk nachgeht.

"Henry hatte das Gefühl, wenn er mit dem Fuß aufstampfte, würden all diese Geschöpfe in Panik die Flucht ergreifen. (…) Er fragte sich, ob er hier den Hirsch finden würde, der Sankt Julian verflucht hatte. Oder vielleicht die Bären, die er erdolcht, die Stiere, die er mit der Axt erschlagen hatte."

Der Tierpräparator ist unhöflich und ohne einen Funken Lebensfreude. Er lenkt alles Interesse auf zwei Tiere: einen Brüllaffen und eine Eselin, die er in Anspielung auf Dantes "Göttliche Komödie" Vergil und Beatrice nennt. Diese zwei Führer durch Hölle und Paradies sind die tierischen Hauptfiguren eines Stückes, das der Präparator schreibt. Dennoch denkt man beim Lesen der Dialoge immerzu an Menschen auf der Flucht. Beatrice und Vergil sind ausgesetzte Kreaturen, Opfer einer rassistischen Jagd. Der rätselhaft klingende Titel muss symbolisch verstanden werden.

"Das Hemd ist ein Land wie jedes andere, Nachbar von, größer als, kleiner als (…) Namen sind willkürlich. Wir teilen die Erde auf, geben den Landstrichen Namen, zeichnen Karten, dann richten wir uns ein. (…) Das Hemd ist das Land, in dem wir alle leben..."

Je weiter der Roman fortschreitet, desto unheimlicher wird die Szenerie

Yann Martels Protagonist wird der Metaphernsucht des Präparators Schritt für Schritt auf den Grund gehen, und je weiter der Roman fortschreitet, desto unheimlicher wird die Szenerie. Wie um den Leser zu beschwichtigen, führt der Autor ganz nebenbei in die wundersame Welt der Tiere und des aussterbenden Berufstandes der Taxidermisten ein. Den Kern seines Buches aber bilden die poetischen, anrührenden Zwiegespräche beider Tiere, die sich zuletzt in eine beklemmend realistische Beschreibung von Folter steigern. Martels Schriftstellerfigur Henry erkennt, dass der Präparator den Holocaust nur als Allegorie benutzt, um über die Ausrottung der Tiere zu klagen. Als am Schluss des Stückes Menschen auftreten, ist das Geheimnis gelüftet.

"Sarah hatte es auf den ersten Blick erkannt: ein Monstrum. (…) Wieso war er so lange blind gewesen? Da saß er, in trauter Eintracht mit einem widerwärtigen alten Nazimitläufer, der sich jetzt als Beschützer der Unschuldigen aufspielte. Nimm die Toten und sorg dafür, dass sie gut aussehen. Wenn das nicht mörderischer Wahnsinn war (…)."

Was Martel uns am Ende mitgibt, sind knapp skizzierte Handlungen, die moralische Fragen aufwerfen und eindeutige Antworten von uns Lesern verlangen. Sehe jeder selbst, ob er es wagt, ehrlich zu sein. Dieser Roman, das ist klar, wirkt fort.

Ein Hemd des 20. Jahrhunderts

von Martel, Yann, übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Verlag:
S.Fischer
Bestellnummer:
9783100478283
Preis:
18,95 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 05.09.2010 | 17:40 Uhr

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